Tiger ohne Biss
Massive Neuverschuldung, Steuererhöhungen, Sozialabbau, Einfrieren der Löhne und eine 500 Milliarden-Euro-Bürgschaft sollen den Absturz der irischen Wirtschaft stoppen
In den 80er Jahren machte der Begriff „Tigerstaaten“ die Runde. Gemeint waren damit vor allem die vier asiatischen Boomregionen Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur, die in hohem Tempo von Entwicklungsländern zu Industriemächten mutierten. Im weiteren Sinne zählten auch Thailand, Malaysia, Indonesien und die Philippinen zu diesem Kreis. In Westeuropa fanden sie eine Entsprechung: den „keltischen Tiger“ Irland.
Dank hoher Unterstützungszahlungen aus dem Strukturfond der Europäischen Union, der die Insel 1973 beigetreten war, sowie gewaltiger Direktinvestitionen amerikanischer und europäischer Technologieunternehmen, die durch niedrige Löhne und minimale Steuern angelockt wurden, erlebte Irland seit 1983 eine beispiellose Prosperität, mit einer Wachstumsrate, die noch im Jahr 2000 bei 9,9 Prozent lag und dann im Durchschnitt bei jährlich gut 5 Prozent. Tragende Kraft war die Exportindustrie. So belief sich der Außenhandelsüberschuss allein in den letzten drei Jahren im Schnitt auf 26 bis 29 Milliarden Euro. Seit Ende der 90er Jahre kam ein enormer Boom am Immobilienmarkt hinzu. Ein Drittel aller Privathäuser wurden in den vergangenen zehn Jahren errichtet. Dennoch stiegen die Immobilienpreise in diesem Zeitraum um nicht weniger als 270 Prozent. Ende 2007 trug die Baubranche ein Viertel zur Wertschöpfung des Landes bei und beschäftigte 13 Prozent aller Arbeitskräfte. Zugleich sank die Arbeitslosenrate, die noch 1991 bei 20,4% gelegen hatte, auf 4,5% im vergangenen Jahr und das klassische Auswanderungsland mit seinen nur 4,2 Millionen Einwohnern verwandelte sich in eines der beliebtesten Migrationsziele, das vor allem Arbeiter aus Polen, Tschechien und Lettland anzog, die heute 8% der Erwerbstätigen stellen.
Rekordverdächtig ist in der Republik Irland allerdings auch die Kluft zwischen Arm und Reich. Obwohl Irland vom nominellen Pro-Kopf-Einkommen her mit 43.260 Euro im Jahr 2007 weit vor Deutschland (29.464 €) oder Frankreich (29.230 €) rangiert, weist es die höchste relative Armut der gesamten EU auf. 22,7 Prozent der Iren leben nach internationalem Maßstab in Armut. 1998 waren es „nur“ 19,8%. Von 1987 bis 2003 sank gleichzeitig der Anteil der ärmeren Hälfte der Bevölkerung am Gesamteinkommen von 25,3% auf 23,6%. 36 Prozent der Beschäftigten (d.h. 850.000 Menschen) erhalten nur den Mindestlohn von 8,65 Euro die Stunde bzw. 17.542 € im Jahr. Profitiert vom Boom haben vor allem die 30.000 Euro-Millionäre und insbesondere die 300 Bürger mit einem Vermögen von mehr als 30 Mio. € (ohne Immobilienbesitz) mit dem Großkapitalisten Sean Quinn an der Spitze, dessen Vermögen im April 2008 auf 4,7 Mrd. Euro geschätzt wurde.
So rasant wie der Höhenflug des Tigers verläuft nun allerdings auch sein Absturz, der in Westeuropa in Tiefe und Tempo nur noch vom benachbarten Island übertroffen wird. Den neuesten Prognosen des irischen Finanzministeriums zufolge wird das Land eine zwei Jahre dauernde Rezession durchmachen. Dieses Jahr soll das Bruttosozialprodukt (BSP) um 1,6% und 2009 um ein weiteres Prozent schrumpfen. Größtes Problemfeld sind die Bruttoanlageinvestitionen, bei denen 2008 ein Rückgang um 19,2% und 2009 um weitere 17,2% erwartet wird. Erheblichen Anteil daran hat das Platzen der Immobilienblase. In diesem Jahr werden lediglich 40.000 neue Wohneinheiten fertig gestellt. Im Vorjahr waren es noch 78.000. Der Preisverfall in diesem Bereich ist derart stark, dass die Anbieter neu errichteter Luxusvillen mit je 280 Quadratmetern Fläche im Norden Dublins jüngst die Preise von 1,4 Millionen € auf 750.000 € senken mussten, um noch Käufer zu finden, wie der Irish Independent am 24.Oktober berichtete. Davy-Analyst Scott Rankin schätzt, dass Ersterwerber in diesem Jahr zwei Milliarden Euro weniger für neue Häuser ausgeben werden, da sie einerseits Angst um ihren Arbeitsplatz haben und andererseits erwarten, dass die Preise noch weiter fallen.
Nicht unwesentlich beigetragen zu dieser Konsumzurückhaltung hat auch der atemberaubende Werteverfall des Aktienbesitzes der neuen Mittelschicht und der oberen Zehntausend. Bereits im vergangenen Jahr war der Irish Stock Exchange-Index mit einem Verlust von 26,5% in den ersten elf Monaten der große Verlierer. (Der französische CAC-40 stagnierte damals mit + 0,4% und der DAX legte sogar noch um 17,1% zu.) Bis Ende Oktober 2008 stürzte der Iseq dann noch einmal von knapp 7.000 auf 2.520 Punkte ab.
Ursache dafür ist ein für die grüne Insel besonders toxische Mischung grundlegender Entwicklungen und Sonderfaktoren. Dabei verbindet sich die das lang erwartete Platzen der Immobilienblase mit der internationalen Finanzkrise und der Rezession in den Hauptabnehmerländern. (17,8% der irischen Exporte gehen in die USA und 16,7 nach London.) Hinzu kommen ein gestiegenes Lohnniveau und das Auslaufen der Sonderkonjunktur im Binnenkonsum. 2006 / 2007 waren Guthaben aus steuerbegünstigten Sparverträgen im Wert von 16 Milliarden Euro freigeworden und hatten die Konsumlaune noch einmal kräftig angefacht. Darüber geriet in Vergessenheit, dass die ausländischen Direktinvestitionen bereits seit 2004 um jährlich 24 bis 26 Milliarden € abnehmen, also in großen Stil Gelder abgezogen und jetzt eher in China, Rumänien oder den baltischen Staaten angelegt werden. Dass es sich bei diesem Geld um recht „flexibles Venture-Kapital" handelt, macht schon die Tatsache deutlich, dass heute ausgerechnet das kleine Luxemburg mit einem Anteil von 27,3% vor den Niederlanden (22,4%), Großbritannien (13,8%) sowie den USA und Kanada (zusammen 13,8%) Hauptinvestor ist.
Um der Krise Herr zu werden, plant die aus der konservativen Fianna Fáil, den liberalen Progressive Democrats und der Green Party bestehende irische Jamaika-Koalition unter dem Taoiseach (Ministerpräsidenten) Brian Cowen (FF) eine „Rosskur“, wie es die Neue Zürcher Zeitung am 16. Oktober unverblümt nannte. Ausgerechnet im ehemaligen Steuerparadies sollen nun alle Erwerbstätigen mit Ausnahme der Mindestlohnbezieher eine Abgabe von einem Prozent auf ihre Einkommen zahlen. Bei Einkommen von über 100.000 € werden 2% fällig. Zusätzlich wird die Mehrwertsteuer, die Kapitalgewinnsteuer und die Zinssteuer erhöht und die Wettsteuer verdoppelt. Außerdem sollen die Abgaben auf Wein, Benzin und Zigaretten heraufgesetzt und Nutznießer von Firmenparkplätzen sowie Eigentümer von Zweitwohnungen zur Kasse gebeten werden. Gleichzeitig plant Finanzminister Brian Lenihan massive Kürzungen im Bildungswesen und die Streichung der erst unlängst eingeführten kostenlosen Gesundheitsversorgung für über 70-Jährige. Trotzdem wird das Haushaltsdefizit im kommenden Jahr auf 6,5% und die gesamte Staatschuld von heute bescheidenen 25% bis 2011 auf 48% des BIP steigen.
Noch sehr viel gravierendere Folgen könnte allerdings die zwei Jahr geltende 500-Milliarden-Euro-Bürgschaft der Regierung für alle Spareinlagen bei den irischen Banken und Bausparkassen haben, die die Regierung Ende September 2008 zur Beruhigung der Finanzmärkte übernommen hat. Die irischen Finanzinstitute sitzen auf Verbindlichkeiten von 400 Milliarden €, denen „Guthaben“ von 500 Mrd. gegenüberstehen. Wobei unklar ist, wie gut diese Guthaben tatsächlich sind. Eine gewaltige Hypothek, denn das irische BIP betrug im vergangenen Jahr nur 185,5 Mrd. €. Die ausstehenden Verbindlichkeiten der Bauindustrie in unbekannter Höhe hat die Dubliner Exekutive daher von der Garantie ausdrücklich ausgenommen.
Dennoch sind die irischen Grünen nach Schüler-, Eltern- und Gewerkschaftsprotesten wegen der Kürzungen im Bildungssektor bereits stark unter Druck geraten. Sieben lokale Schulbehörden verurteilten die Rotstiftpolitik als „unmoralisch und absolut beleidigend“. In einer Zwickmühle steckt auch die Führung des irischen Gewerkschaftsbundes. ICTU-Generalsekretär David Begg warnte die Regierung vor der „realen Gefahr“, dass die Gewerkschaftsbasis die anstehende Urabstimmung über das Mitte September ausgehandelte 11monatige Einfrieren der Löhne für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes (bei der aktuellen Teuerung ein Reallohnverlust von 4,3%!) als Gelegenheit sehen könnten, Regierung und Gewerkschaftsbürokratie einen Denkzettel zu verpassen, wenn die Haushaltspolitik nicht abgemildert wird. Die Erinnerung an die „wilden Streiks“ im Frühjahr im Transportsektor ist noch recht frisch. Die nächste stürmische Entwicklung könnte Irland daher im sozialen Bereich erleben.