"Tödliche Weihnachten"
Das Fest der Liebe als Hotspot? - Experten warnen vor dem "Weihnachtseffekt", die Politik übe sich in falscher Rücksichtnahme
Viele lenken sich mit weihnachtlicher Idylle vom Corona-Wahnsinn ab. Einrichtungsboutiquen und Discounter freuen sich über die Nachfrage nach Romantik, das geht von der Lichterkette über die Kuscheldecke bis zur heimeligen Komplett-Deko. Die Wohnung wird zum goldenen Käfig.
"Mehr Todesfälle nach dem Fest"
Dort, wo viele Menschen zusammenkommen, steigt die Chance einer Übertragung, sagen Virologen und Ärzte. Zwei bis drei Wochen nach dem Fest werde es mehr Todesfälle geben, prognostizierte unlängst Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes. "Weihnachten wird damit zu einem Fest mit einem Todesrisiko für manche Menschen." Seine Worte scheinen nicht auf besonders offene Ohren zu treffen.
Der Funktionär übt drastische Kritik an den Bund-Länder-Plänen für die Festtage. Zuletzt hatten die Ministerpräsidenten der Länder und Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Verlängerung und Verschärfung der allgemeinen Kontaktbeschränkungen beschlossen; ab dem 23. Dezember soll es aber Lockerungen geben. In dieser Zeit können zehn Personen im Familien- und Freundeskreis zusammenkommen. Kinder bis 14 Jahre nicht mitgezählt.
Auch der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Prof. Uwe Janssens, sieht die kommenden Wochen mit gemischten Gefühlen. "Bei allem Verständnis für Weihnachten und Familienfeiern müssen wir leider befürchten, dass in der Folge der partiellen Aufhebung der Einschränkungen um Weihnachten im Januar die Infektionszahlen wieder ansteigen", sagte er.
Janssens vertritt mehr als 3.000 Intensivmediziner und Pflegekräfte, die derzeit auf deutschen Intensivstationen schuften. Er wolle keine Angst machen, appelliert daher in einer 5-minütigen Videobotschaft deutlich an die Solidarität. Dazu zählt seiner Ansicht nach, die Teilnahme an Festen zu hinterfragen.
Eine Modellrechnung
Eine Modellrechnung des Forschungszentrums Jülich und des Frankfurt Institutes for Advanced Studies entwirft verschiedene Szenarien für die Feiertage.
Mit keinem besonders überraschenden Schluss: "Mögliche vermehrte Kontakte zu Weihnachten und Silvester könnten als neue Quellen zusätzlich zur Ausbreitung des Virus beitragen." Diesen "Weihnachtseffekt" vergleichen die Wissenschaftler mit einer schon zweimal in diesem Jahr beobachteten Entwicklung: Den Zuwächsen bei den Neuinfektionen zur Zeit der Winter- und Sommerferien, vor allem durch Reiserückkehrer.
Die weihnachtsbedingte Ausweitung der Kontakte durch Besuche von Familien, Freunden und Bekannten, womöglich über das ganze Land hinweg, lassen folglich das Risiko einer geografischen Verteilung der Infektion ansteigen. Mit unbekanntem Ausgang: Jedenfalls wären auch Regionen mit derzeit niedriger Inzidenz wieder verstärkt exponiert. Im Endeffekt ein Motor zu einem höheren Anstieg der Neuinfektionen insgesamt.
Die Forscher stellen ihrem Best Case-Szenario ein Worst Case gegenüber. Im best case bleibt die Kontaktrate konstant. Im worst case steigt sie um 50 Prozent. Für diesen (schlechtesten) Fall gehen die Wissenschaftler davon aus, dass es infolge der Besuche zu Weihnachten und Silvester zu einer deutlich - um 50 Prozent - erhöhten Kontaktrate kommt. Dann würden die Fallzahlen ihren Berechnungen zufolge im Januar die Marke von 25.000 Neuinfektionen pro Tag reißen.
"Da freut sich das Virus und jubelt"
Intensivmediziner Uwe Janssens sieht derweil auch Silvester kritisch. Genau wie sein Ärztekollege Frank Ulrich Montgomery. Über den Jahreswechsel sei viel Alkohol im Spiel, sagt letzterer. Menschen würden gemeinsam feiern und sich in den Armen liegen. "Das sind wunderbare Infektionsquellen. Da freut sich das Virus und jubelt", so der Vorsitzende des Weltärztebundes.
Auch andere Ärzte warnen vor einem Kollaps der Kliniken durch riskante Feiern, dies stünde gerade zu Silvester zu befürchten. Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren werden bei der aktuellen Begrenzung der Kontakte, wie schon gesagt, nicht mitgezählt. Das bedeutet, dass an Weihnachten und Silvester auch mehr als zehn Menschen zusammen feiern können. Und das wird natürlich auch der Fall sein. Und auch die Kids - von der Politik kaum thematisiert - sind Überträger der Infektion.
Man sucht vergeblich nach einer Logik. Die Zahl "10" (in der die Kids unterschlagen sind) ist reine Politsymbolik. Bei 20 oder 30 Restaurant- oder Cafébesuchern mit gebührendem Abstand wäre das Ansteckungsrisiko vermutlich geringer als bei 10 bis 15 Personen unterm Weihnachtsbaum, wo zudem gewiss kein Knecht Ruprecht die tatsächlichen Zahlen der Feiergäste überwacht.
Also Augen zu und hinein ins Festgetümmel? Es sieht eher nach einem falsch verstandenen "Fest der Liebe" 2020 aus. Die Neuinfektionen schwanken gerade um die 20.000 am Tag und gehen auch schon drüber. Mit einer womöglich gutgemeinten, im Kern aber falschen Rücksichtnahme der Politik auf Weihnachten und Neujahr könnte es einen neuen Negativ-Rekord geben.
Nachdenken über Glühweinstände und eine offene Frage
Kanzlerin Angela Merkel strebt jüngsten Meldungen zufolge zwar vor Weihnachten noch einen neuen Konsens über zusätzliche Maßnahmen in der Pandemie an. Mit dem derzeitigen Reglement, so wird sie zitiert, komme das Land "nicht durch den Winter", es werde "zu viel über Glühweinstände gesprochen und zu wenig über Krankenschwestern und Pflegekräfte".
Weihnachten selber bleibt jedoch die Ausnahme. Aus dem Bundeskanzleramt ist nach einem Bericht der Bild-Zeitung gleichzeitig zu hören, dass man plant, die Maßnahmen "ab dem 27. Dezember" erheblich zu verschärfen. Wie gründlich wurde da nachgedacht?
Markus Söder hat unterdes für Bayern die Notbremse gezogen: Ab Mittwoch gilt im gesamten Freistaat ein Zehn-Punkte-Plan mit einem harten Lockdown und Ausgangsbeschränkungen. Die neuen Regelungen sollen vom 9. Dezember bis zum 5. Januar 2021 gelten, Silvester inclusive. Die deutsche Weihnacht will auch er nicht antasten; vom 23. bis 26. Dezember gibt es Feiertagslockerungen.
Ist uns die Weihnachtsseligkeit das Risiko wert? Jeder unnötige Todesfall dürfte einer zu viel sein.