Tories verbreiteten in 88 Prozent der Wahlkampfwerbung auf Facebook Lügen
Der gerade zu Ende gegangene Parlamentswahlkampf wird als einer der schmutzigsten der jüngeren Geschichte Großbritanniens in Erinnerung bleiben. An dieser Suppe haben viele mitgekocht, darunter Journalisten, Parteistrategen und anonyme Großspender
Laut einer Meinungsumfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov vom zweiten Dezember ist über ein Drittel aller britischen Wähler der Meinung, dass Politiker und Parteien in vergangenen Wahlkämpfen unehrlich agiert haben. 87% fordern eine gesetzlich verankerte Wahrheitspflicht bei Wahlwerbung.
Die Nichtregierungsorganisation "First Draft" hat ermittelt, dass Boris Johnsons Konservative vom ersten bis vierten Dezember 6000 Werbeeinschaltungen auf Facebook gebucht haben. 88 Prozent davon sollen laut dieser Analyse "irreführend" sein. So verbreiteten die Tories 5.000 Mal das Versprechen, 40 neue Krankenhäuser bauen zu wollen. 544 Mal wurde verkündet, dass eine Regierung Johnson 50.000 neue Pflegekräfte im staatlichen Gesundheitswesen NHS anstellen wolle.
Beide Aussagen sind zentrale Säulen des konservativen Wahlkampfes, beide Aussagen sind nachweislich falsch. Sie werden unter anderem in einem neuen Bericht der "Coalition for Reform in Political Advertising" widerlegt. Auch der konservative Journalist Peter Oborne entlarvt auf seiner eigens für die Wahlen errichteten Faktencheckwebseite beide Behauptungen als Lügen.
So werden bis 2025 lediglich sechs Krankenhäuser saniert und erweitert. Bis zu 38 weitere haben Geld für die Erstellung von Bauplänen bekommen, es gibt aber weder Geld noch Genehmigungen, um mit Baumaßnahmen anzufangen. Bei den 50.000 "zusätzlichen" Pflegekräften sind 18.500 bereits beim NHS angestellte Pflegekräfte mit eingerechnet, welche man auffordern wolle, auch weiterhin im Gesundheitswesen zu arbeiten.
Die Tories konnten diese und weitere Behauptungen weitgehend unhinterfragt aufstellen, auch weil große Medienanstalten wie die BBC die Wahlkampfpropaganda der Konservativen unkritisch weiter verbreiteten. Das führte in den letzten Wahlkampftagen zu Situationen, welche geeignet erscheinen, das ohnehin nicht mehr sehr ausgeprägte Vertrauen in diese Institutionen weiter zu erschüttern.
Boris Johnson und der vierjährige Junge im Krankenhaus
Prominentestes Beispiel ist ein Zwischenfall in einem Krankenhaus in der nordenglischen Großstadt Leeds. Hier erregte am 9. Dezember das Foto eines vierjährigen Jungen welcher aufgrund akuten Bettenmangels die Nacht auf dem Fußboden eines Krankenhausflures verbringen musste große öffentliche Aufregung. Die der Labour-Partei nahestehende Tageszeitung "Daily Mirror" brachte das Foto am Dienstag auf ihrer Titelseite um die Zustände im Gesundheitswesen zu skandalisieren. Die Beendigung des Sparzwangs im Gesundheitswesen ist eine der wichtigsten Forderungen im Wahlprogramm der Labour-Partei.
Die folgenden Wahlkampfstunden waren für Boris Johnson keine leichten. Ein Reporter des Fernsehsenders ITV nutzte ein Interview mit dem Premierminister, um ihm das Foto auf einem Smartphone zu zeigen. Johnson wollte das Bild nicht kommentieren, nahm dem Reporter das Smartphone weg und steckte es in die eigene Jackentasche. Ein Public Relations Fiasko erster Klasse.
Etwas musste getan werden. Die Tories schickten Gesundheitsminister Matt Hancock nach Leeds, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Da verkündeten die Twitter-Accounts prominenter Journalisten, darunter die politische Chefkorrespondentin der BBC Laura Kuennsberg, dass ein parlamentarischer Mitarbeiter Hancocks vor dem Krankenhaus durch Labour-Sympathisanten geschlagen worden sei. Außerdem habe Labour hunderte Aktivisten in von der Partei finanzierten Taxis zum Krankenhaus karren lassen, um dort zu protestieren. Dies hätten "führende" konservative Quellen bestätigt, so Kuenssberg und zahlreiche andere Journalisten.
Doch schnell stellte sich heraus, dass nur ein knappes Dutzend Demonstranten vor dem Krankenhaus waren. Der Mitarbeiter des Gesundheitsministers wurde auch nicht geschlagen, vielmehr war er in einen gestikulierenden Aktivisten hineingerannt. Kuenssberg und Co. mussten ihre Berichterstattung korrigieren. Doch da war die Nachricht schon tausendfach im Land verbreitet worden, viele Medien hatten den Zwischenfall aufgegriffen.
Die Lage eskalierte weiter, als sich über Facebook die Botschaft einer Frau verbreitete, die über eine angeblich im Krankenhaus in Leeds arbeitenden Freundin erfahren haben wollte, dass Labour das Foto mit dem kleinen Jungen gefälscht habe. Innerhalb kurzer Zeit lasen Zehntausende, dass die Labour-Partei im Wahlkampf manipuliert. Doch am Mittwoch war schon wieder alles anders. Die betreffende Frau erklärte, sie habe diesen Facebook-Text nie geschrieben, ihr Account sei gehackt worden. Nun steht die Frage im Raum: von wem?
Fälschungen sind Teil des konservativen Wahlkampfes
Als die erste Fernsehdebatte zwischen den im Unterhaus vertretenen Parteien über die Bildschirme flimmerte, erfand sich der Twitter-Presseaccount der Tories kurzerhand neu und wurde in eine angebliche "Faktencheck"-Seite umgewandelt. Schon für diese Aktion ganz zu Beginn des Wahlkampfes hagelte es Kritik, sie prallte an den Tories wirkungslos ab.
Schließlich haben die Tories einflussreiche Freunde. Die wichtigsten britischen Tageszeitungen sind im Besitz von Multimillionären, welche gleichzeitig starke Sympathien für die Konservativen hegen. Zunehmend verschwimmt hier die Grenze zwischen konservativem Aktivismus und offen faschistischen Kräften.
Nicht zu toppen ist hier ein inzwischen wieder sang- und klanglos verschwundener Artikel in Rupert Murdochs Revolverblatt "The Sun". Sie brachte einen Bericht über das "linksradikale" Netzwerk, welches die Labour-Partei angeblich im Hintergrund steuert. Basis des Artikels war eine von "ehemaligen Militärveteranen in ihrer Freizeit" erstellte Webseite. Diese Webseite bezog sich ihrerseits auf Quellen faschistischer Gruppierungen wie zum Beispiel "Aryan Unity" - "rassische Einheit".
So etwas hat Konsequenzen auf der Straße. Vor allem Wahlkämpfer der Labour-Partei wurden in den letzten Tagen Opfer gewalttätiger Übergriffe. Unter anderem war ein 72-jähriger Rentner betroffen. Labour-Parteichef Jeremy Corbyn sprach auf einer Rede im nordenglischen Middlesborough am Mittwoch von "51 Tagen unbeschreiblicher Übergriffe" gegen die Aktivisten seiner Partei.
Boris Johnson geht derweil kritischen Nachfragen weiter aus dem Weg. Sein letzter Wahlkampftag begann am Mittwoch damit, dass er sich vor Fernsehjournalisten in einer Gefrierhalle versteckte, während sein Pressesprecher die versammelten Medienleute mit Flüchen eindeckte. So agiert kein Mensch, der sich seiner politischen Sache sicher ist. Die Rolle, welche die Medien in den letzten Wochen gespielt haben, wird das Land unabhängig vom Wahlergebnis noch lange beschäftigen.
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