Trümmer über Trümmer

Der 11. September gibt nicht nur Schreibtischgenerälen oder Sozialromantikern, sondern auch dem Engel der Geschichte neue Nahrung

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Der 11. September 2001 steht im Ruf und im Verdacht, eine Bruchlinie in der Evolution der globalen Netzwerkgesellschaft zu markieren. Nichts wird mehr so sein, wie es schon mal war; nie mehr wird die Welt dieselbe sein wie vor dem Angriff - so oder so ähnlich tönt und schallt es seit Wochen von den Prints und Screens der Weltöffentlichkeit. "What happened on September 11 changed the world forever. Freedom, progress, wealth, technology, war - these words have taken on new meaning", schreibt Arundhati Roys in ihrem ansonsten höchst bemerkenswerten Kommentar zur angelsächsischen Brutality smeared in peanut butter. Und ein US-amerikanischer Literaturprofessor deutscher Herkunft, der noch in den Sommermonaten von Stanford aus die Zukunft schwinden und die Gegenwart immer breiter werden sah, fühlt sich am Tag danach von islamistischen Assassinen urplötzlich "in eine bedrohlich offene Zukunft gestoßen."

Paul Klee: Angelus Novus

Angesichts der Frische und zeitlichen Nähe des Ereignisses mögen uns solche Urteile verblüffen und die Annahme oder Behauptung einer neuen epoché eher steil und kühn erscheinen. Jetzt bereits von Zäsur, Wendemarke oder Zeitenwende zu sprechen, hilft vielleicht bei der Bewältigung und Verarbeitung emotionaler Befindlichkeiten. Immerhin vermag es dem "Erlebten" Ausdruck, Sinn und Bedeutung zu verleihen. Im Grunde legt man damit aber nur ein Zeugnis oberflächlicher Beobachtung und eklatanter Geschichts- und Machtvergessenheit.

Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen mit einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen.

Walter Benjamin

Umsturz und radikaler Wandel finden eher auf anderen Schauplätzen statt, in Labors, Büros und Chefetagen und nicht vor medialen Schirmen. Tatsächlich sind mit dem tausendfachen Tod unschuldiger Menschen, der ebenso schmerzlich wie schmerzhaften Erfahrung in die Verwundbarkeit von Gottes eigenem Land und der öffentlichen Demütigung der "einzigartigen und großartigsten Nation", die der Erdball bislang gesehen hat (so die amerikanische Selbstbeschreibung), nur etliche Selbstgewissheiten und Selbsttäuschungen, die der modische Diskurs jahrzehntelang gehegt und gepflegt hat, mit abgestürzt und zu Schaden gekommen. Der militärische Klartext, den ziviles Fluggerät, Teppichmesser und zum Letzten entschlossene Menschenkörper in der Zentrale des "räuberischen Kapitalismus" gesprochen haben und der seine Top-Manager zur "infinite justice" in Zentralasien herausfordert, hat, so meine These hier, allenfalls einige gesellschafts-, geo- und machtpolitische Trends und Entwicklungslinien verstärkt und beschleunigt, die im Inneren der global vernetzten Gesellschaft bereits angelegt waren, während andere Möglichkeiten, die der zeitgenössische Diskurs jahrzehntelang liebevoll gehegt und gepflegt haben, von ihm entzaubert, aussortiert und auf dem Müllhaufen der Geschichte geworfen werden.

Doch nicht um den Überwachungs- und Schnüffelstaat, um die Aushöhlung der Privatsphäre und massive Einschränkung von Bürgerrechten soll es im Folgenden gehen, auch nicht um Geoökonomie und Machtinteressen, um Loyalitäten, strategische Partnerschaften und Allianzen auf Zeit - das muss einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben - , sondern um neue, zum Himmel wachsende Scherbenhaufen und Schuttberge, die sich vor dem Engel der Geschichte auftürmen, jenem Beobachter, der vom Sturm des Fortschritts, der vom Paradies herüberweht, unerbittlich vorwärts getrieben wird.

Massierende Öffentlichkeiten

Wenn hier von "Trümmerhaufen" und neuen Müllhalden die Rede ist, dann meine ich damit weder die rauchenden Glas- und Stahlreste von Ground Zero noch das gähnende Loch, das die entwendeten Boeings beim Angriff auf die "Schwurfinger des Geldes" (Botho Strauss) in der Skyline Manhattans und in den Herzen der New Yorker hinterlassen haben. Ich meine damit auch nicht das vielzitierte "Schluss mit lustig", das derzeit in den Feuilletons die Runde macht, oder den Abgesang, der jüngst auf die Popliteratur angestimmt wird.

Harald Schmidt und Godzillas, Workout und Schmuddel-TV, Wodka-Orgien und Herzblatt wird es auch weiterhin geben. Dass sich wegen der Katastrophe, so sehr sie auch durch televisionäre Endlosschleifen zum Mythos gemacht worden ist, ein Massenpublikum umorientiert und plötzlich nur noch Kuschelrock hört und Schicksalsfragen erörtert, Überzeugungen abfragt und normative Verbindlichkeiten austauscht, ist kaum zu erwarten. Da lagen Feuilletonisten wieder mal ziemlich daneben. Beileidsbekundungen und das Zurschaustellen blanken Entsetzens sind längst Teil und Ergebnis der durch Medienmassage und permanenten Medienbeschuss in Erregungszustand versetzten Öffentlichkeiten, die sie und ihr Publikum, seitdem sie sich medial-technisch definieren, regelmäßig heimsuchen. Das Auf und Ab von starken Gefühlen zu präsentieren und den Wechsel von Freude und Schrecken zu inszenieren gehören ebenso mit zur medialen Aufmerksamkeitsproduktion wie das Moralisieren oder Verteufeln von Handlungen, Meinungen und Personen. Schließlich müssen Kunden bei der Stange und die Einschaltquoten, Klickraten und Verkaufszahlen hochgehalten werden. Sonst lahmt das Geschäft und die Werbekundschaft bleibt aus.

Der Engel der Geschichte [...] hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.

Walter Benjamin

Schon als vor einer Dekade Desert Storm ausbrach, gab es solche Ausbrüche und Kundgebungen öffentlicher Hysterie zuhauf. Wildfremde Menschen fassten sich an den Händen und bildeten Menschenketten, sie stellten Kerzen auf Fensterbänke und hängten weiße Betttücher aus den Fenstern. Aus Angst und in Erwartung fliegender Biobomben aus den Fabriken Saddams besorgten sie sich Frischwasser und deckten sich mit Konservendosen ein. Als an die Hunderttausend Irakis endlich in den Wüstensand gebombt waren, der ungehinderte Zugang und Zugriff des Westens auf die arabischen Erdölfelder gesichert war und Kuweit wieder unser wurde, ravten Friseusen und Kellner, Sekretärinnen und Jungpädagogen was die Soundregler hergaben. Buntbemalt, im Indianerkostüm und mit Silberpiercings in Zunge, Nase und Bauchnabel zogen sie auf Traktoren und Unimogs lärmend und kreischend über den Kudamm und Dummschwätzer grölten alsbald Maschendrahtzaun von den Screens.

Deswegen sind die Lamenti des deutschen Feuilletons über einen neuen Existentialismus, der Trauerbeflaggung trägt, unbegründet. Während Betroffenheitsapostel und Bedenkenschreiber noch wortreich darüber grübeln und wie Joschka Fischer die Stirn in Falten legen, übt sich das Publikum bereits wieder im Alltagsgeschäft. Längst ist es der ewiggleichen Bilder, Kommentare und Berichte über den Krieg in Zentralasien überdrüssig geworden, und hat sich sein Recht auf Partys, Fun und Daily Soaps wieder zurückerobert. Nicht nur Halloween wurde ausgiebig gefeiert, mehr noch als zuvor überfluten Jaden Gils, Joops und andere öffentliche Selbstdarsteller die Interfaces der permissiven Gesellschaft, während auf den Screens IQs getestet, Brüste gewogen und Schwimmreifen abgesaugt werden. Westliche Gesellschaften sind nun mal auf schnellen Genuss und raschen Verzehr von Erzeugnissen und Bildern programmiert, auf Ablenkung, Zerstreuung und Vergesslichkeit sind sie geeicht, und nicht auf Trauerarbeit, Eingedenken und dauerhaften Schwermut.

The game must go on, so will es schließlich auch der Oberbefehlshaber des "Krieges neuen Typs". Für den permanenten Ausnahmezustand ist weder Platz noch Zeit, außer man hält die unmittelbare Befriedigung individueller Wünsche, die Jagd nach dem individuellen Glück (pursuit of happiness) und die mentale Leere einer "permissive cornucopia" (Zbig Brzezinski) ihrerseits bereits für den Ausnahmezustand. Im Gegenteil: Um wirtschaftlichen Krisen vorzubeugen, wird der Konsum neuerdings sogar zum patriotischen Dienst. Und der Obulus, den Nikotinsüchtige hierzulande ab dem nächsten Jahr für die Finanzierung der Überwachungs- und Kontrollgesellschaft entrichten, hilft nebenbei, auch die chronisch an Finanzschwäche leidenden Rentenkassen um ein paar Hunderstel Prozentpunkte zu entlasten.

Bohrer to the front

Und schließlich meine ich mit "Trümmerhaufen" auch nicht jenen "Abschied von der Ironie", den Karl Heinz Bohrer schon vor langer Zeit, Pulp-Sänger Jarvis Cocker vor einigen Jahren und Thomas Ostermaier, Chef der Berliner Schaubühne, erst jüngst noch einmal verkündet haben.

Wenn ausgerechnet unser einziger Attentist, der Ausnahmeprediger und letzte Fan archaischer Ästhetik, Karl Heinz Bohrer, im Editorial der November-Ausgabe des Merkur die archaische Gesinnung der afghanischen Talibans und saudiarabischen Wahhabiten geißelt, sein modernistisch gefärbtes Ressentiment gegen das unaufgeklärt echte Ressentiment der Islamisten kehrt und Kritiker alttestamentarischer Rachefeldzüge zur dritten Kolonne ("nützliche Idioten") der Terroristen befördert, um an einer neuen "Dolchstoßlegende" zu stricken; oder wenn sein Adlatus, der Schöngeist Kurt Scheel, an gleicher Stelle den Westen auffordert, am Hindukusch und im Pamir-Gebirge doch endlich zu beweisen, dass er "mehr als eine saturierte Gemeinschaft von Konsumenten" ist, so zeitigen solch markigen Worte Helm bewehrter Federträger durchaus komische Effekte.

Es ist jetzt die vielleicht letzte Gelegenheit [...], dass der Westen sich und der Welt klarmacht, wofür er steht und was er zur Verteidigung seiner Werte zu unternehmen gedenkt.

Kurt Scheel, Merkur

Vor allem dann, wenn die neudeutsche Lust auf "große Opfer", die der "Verteidigung westlicher Werte" zu folgen habe, an der Brandmauer der eigenen Tastatur endet, während "arabische Selbstmordattentäter", wie es da heißt, "mutig ihr Leben opfern, um Wehrlose und Unschuldige in großem Stile umzubringen." Vom Schreibtisch aus, mit Wut und Schaum vor dem Mund, die "larmoyante Appeasement-Rhetorik" aller Warmduscher und Weicheier abzukanzeln, die "kämpferische Entschlossenheit und Potenz [...] konkreter Kampfeinheiten" anzumahnen und jegliches "Wegducken" und "salbungsvolles" Gerede als "politischen Provinzialismus" zu verteufeln sind das eine; in den tiefen Schluchten und zerklüfteten Bergen und Tälern Afghanistans gegen einen unsichtbaren Feind, gegen unwegsames Gelände und menschenfeindliches Klima zu kämpfen aber das andere.

Wohlan denn, Kurt und Karl Heinz! Auf, auf, ihr Beiden! Marschgepäck geschnürt und up to the front! Die Schröders, Fischers und Scharpings werden hocherfreut über soviel Kampfgeist und Patriotismus sein. Die Bundeswehr wird sicher noch zwei Sturmgewehre übrig haben, um aus Ästhetik und Verbalradikalismus reale Kampferlebnisse zu machen.

Remote Control

So martialisch und kämpferisch die "Sprache des Ernstes" unserer beiden armchair generals auch daherkommt - in zwei wesentlichen Punkten ist ihnen jedoch zuzustimmen. Der Krieg in Zentralasien ist, was im Lärm einer wochenlang emotional hysterisierten Öffentlichkeit untergegangen und vergessen worden ist, nichts anderes als eine Reaktionsbildung auf den hinterhältigen Angriff einer gewieften und hoch trainierten Terrorgruppe. Der Angriff auf das Handelszentrum der "One World" und der amerikanische Vergeltungsschlag sind rational geplant und kühl kalkuliert worden. Mithin ein klassischer Fall von remote control.

Die Mörder wussten, dass und wie der Cowboy und Weltsheriff Nummer Eins auf eine solche Anmaßung, Herausforderung und Demütigung in Echtzeit und vor aller Augen reagieren würde und reagieren musste. Der vorab berechnete Fall der Twin Towers sollte die Weltmacht nicht bloß einen Schrecken einjagen und ihrer Bevölkerung einen Schock versetzen, in den Planungen der Hintermänner sollte der Angriff auch zum Fanal des Jihads werden, der "blutigen Entscheidungsschlacht" zwischen Gläubigen und Ungläubigen.

Der Tod [...] ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert.

G. W. F. Hegel

Wurde der Anschlag in New York und Washington auch gegen die USA und ihre Machtsymbole geführt, Ziele der Attacke sind insgeheim aber andere: die korrupten Systeme und die vom westlichen Lebensstil verseuchten Eliten in Saudi-Arabien, Ägypten und anderswo, als deren Statt- und Steigbügelhalter sich die USA seit Jahrzehnten präsentieren einerseits, und die Befreiung heiliger Orte von der Anwesenheit Ungläubiger andererseits. Das tausendfache Leid, das der Bombenkrieg unter der Bevölkerung in Zentralasien anrichtet und das dank Al-Jazeera ab und an auf den Oberflächen der Weltöffentlichkeit aufblitzt, soll, so das Kalkül der Attentäter, einen Solidarisierungseffekt mit den unterdrückten und gedemütigten moslemischen Völkern und Volksgruppen bewirken, der schließlich in einen revolutionären Aufstand der dermaßen Erniedrigten mündet.

Umsturz der westlich gestützten Regime, Gottesstaaten und Vertreibung der Ungläubigen von heiligen Boden sollen Ergebnis dieser Handlungsketten sein. Darum täuschen sich westliche Kommentatoren, wenn sie den Terroristen eine mittelalterliche Ideologie und Strategie unterstellen. Weder zeigen sie sich "unaufgeklärt", wie Bohrer und sein Sekretär meinen, noch verhalten sie sich antimodern. Wie vormals Leninisten, Dadaisten und Rote Brigaden begreifen auch sie sich als Vorhut, Stoßtrupp und intellektuelle Avantgarde, die stellvertretend für andere voranschreitet, den Ausnahmezustand herbeiführt und dadurch die Nachhut zur Entscheidungsschlacht mit dem absoluten Feind zwingt.

Kritikabel und angreifbar sind sie demnach nur dort, wo sie auf Gefolgschaft ihrer Glaubensbrüder und ihre Entschlossenheit zum Jihad setzen und dabei vergessen, dass sich schon der irakische Führer an dieser Strategie erfolglos versucht hat. Auch wenn es bin Laden gelingt, anders als der säkularisierte Saddam, den religiösen Führer authentisch zu verkörpern, scheint einer Mehrheit der Moslembrüder der Bauch doch weit näher als das Herz, das Genießen wichtiger zu sein als der Märtyrertod.

Wenn die Sozialromantiker unter unseren Leitartiklern einen Stopp der ebenso ruchlosen wie sinnlosen Bombardierung eines tief geschundenen Landes forderten, dann dient das auch der Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens, politisch und strategisch zu Ende gedacht ist das aber nicht. Im Begehren um Anerkennung und im Kampf ums Prestige (A. Kojève), der im Krieg der Kulturen seine Fortsetzung erfährt, verliert derjenige, der die "Macht des Negativen" nicht scheut. Unterwerfung, Knechtschaft und Sklaventum sind unweigerlich die Folge. Die Todesfurcht ausgehalten, dem Tod "ins Angesicht" geschaut und "bei ihm verweilt" zu haben, ist das, was laut Hegel, Nietzsche, Bataille und Lacan die "größte Kraft" verlangt. Dies dem Westen und seinen Öffentlichkeiten erneut eindrucksvoll demonstriert zu haben, ist der Unterschied, der einen wirklichen Unterschied macht.

Weil westlichen Kämpfern, bedingt durch das süße Leben, dieses Riskieren des Todes verloren gegangen ist und die Manager des Krieges die Leichenreste hochspezialisierter Krieger auf abendlichen Screens und Hochglanz befeuerten Magazinen fürchten, feuern sie "feige" (S. Sontag) aus luftigen Höhen und sicherer Distanz. Während sie sich bislang hinter den Schutzschildern und Schützengräben raumnegierender Technologien verstecken, müssen andere die Kohlen für sie aus dem Feuer holen. Man bedient sich bewusst übel beleumundeter Räuberbanden, weil man den Kampf "von Angesicht zu Angesicht" scheut. Aus dieser Sicht, und nur aus dieser, stellte der Vorschlag des Außenministers der Taliban, Bush oder Blair mögen zum Duell mit Mullah Mohammed Omar schreiten, eine interessante Perspektive dar. Es ist nicht zu erwarten, dass die beiden dermaßen Herausgeforderten diesem "Angebot" folgen werden.

Aber noch in einem weiterem Punkt ist den Kriegern unter dem Banner des Merkur beizupflichten. Terrorangriff, Vergeltungskrieg und die durch ihn ausgelösten Flüchtlingsströme nach Pakistan, Turkmenistan und in den Iran haben nichts mit einem Seminar über Virtual Humans, Globalisierung oder islamische Kultur zu tun. Bei den Attacken westlich und östlich des Atlantiks handelt es sich um eine materielle und "reale Situation", die von einem "ontologischen Feind" bewusst heraufbeschworen worden ist.

Blowback unangenehmer Wahrheiten

Unversehens habe ich damit doch den Bogen zum Inhalt meines Kommentars gefunden und bin wieder mitten im Thema, beim Sezieren modischer Selbstgewissheiten angelangt. Gerade der modische Diskurs hatte bekanntlich "Wirklichkeit", "Ontologie", "Materialitäten" und dergleichen im Ressentiment gegen die "Wahrheiten" universalistischer und moralisierender Diskurse Frankfurter Prägung einerseits, der Adaption kulturalistischer Deutungen aus Paris und den USA andererseits und ihrer beidseitigen Letztvereinnahmung durch soziologische Autologiker Anfang der Achtziger von der Agenda gestrichen.

Dekonstruktivismus, Kulturalismus, Systemkonstruktivismus und Cybermoderne hatten sie bereits für "aufgehoben im dreifachen Sinn des Wortes" erachtet: für "beseitigt und annulliert", für "aufbewahrt oder behütet" und schließlich "erhoben, d. h. emporgehoben auf ein höheres Niveau der Erkenntnis und der Wirklichkeit und damit der Wahrheit" (A. Kojève). Differenzdenken, Perspektivismus und das entscheidungsscheue I would prefer not to obsiegten über Essentia, Qualitäten und Identitäten.

Bislang finde ich die Kriegsführung relativ intelligent.

Richard Rorty

Wer dieses Diskursverbot missachtete und nicht auf den modischen Schnickschnack der medialen Konstruktion, des Textes oder der losen Kopplung von Zeichen und Bedeutung aufsprang und zugleich seine Aussagen und Urteile dem Kontext historischer Zufälligkeit aussetzte, galt theoretisch für besonders rückständig oder einfach als unbelehrbar und borniert. Inhalte, Themen und Bereiche, die mit "Schwerkräften", "Tatbeständen" oder "materiellen Substraten" hantierten oder an operative "mediale Infrastrukturen" gekoppelt waren, wurden vernachlässigt oder in die Umwelten und Randbezirke des Diskurses abgedrängt, wenn sie sich dem zum Dogma erhobenen Spiel der Hervorbringung, Herstellung und nihilistischen Kommunikation nicht fügten.

Dazu gehörten beispielsweise Fragen, die topographischen Ursprungs waren, wie der Gegensatz von Zentrum und Peripherie, die Permanenzen von Territorium und Raum oder die Bedeutung von Geographien, Lokalitäten und Grenzen für Geopolitik und Geoökonomie; dazu gehörten aber auch ideographische Gegenstände und Motive, die sich auf die Herkunft und Abstammung von Menschen, Kulturen und Stämmen oder auf Mentalitäten und die Ideenproduktion richteten. Seit dem Einschlag vom 11. September dürfte wohl auch dem letzten Fan modischer Diskurse dämmern, dass etliche dieser Konfliktfelder und Diskursgenres weder überholt noch überwunden, überlebt oder entsorgt sind, sondern vielmehr mit Macht und mit Verve auf die Agenda der Diskurse zurückdrängen.

Politik räumlich-kultureller Abgrenzung

Um die Geduld und Aufmerksamkeit der Leser nicht noch länger zu strapazieren, muss vorerst ein Beispiel dafür genügen. Zu diesen "unangenehmen Wahrheiten", die der Anschlag provoziert, zählt sicherlich das großflächige Scheitern der Politik der Differenz. Dieses liebste Kind und Spielzeug des postmodernen Diskurses wollte im Gegenüber allenfalls noch den Gast, das Geschenk oder die Gabe eines Freundes wahrnehmen, nicht mehr aber auch den Gegner, Schläfer und Feind, der das Eigene in seiner Andersartigkeit bedroht und damit "die eigene Frage als Gestalt" (C. Schmitt) stellt.

Dass in einer global vernetzten Welt weder der Westen das alleinige Maß aller Dinge sein kann noch alle Menschen Brüder und Schwestern werden wollen, dürfte sich herumgesprochen haben. Hätte man im Lager der Neuhumanisten genauer die Schriften der Stichwortgeber der Postmoderne studiert, wäre es nicht zu dieser Bauchlandung gekommen. Vor allem bei Nietzsche und den anderen "bösen Jungs" der Aufklärung hätte man erfahren, dass es immer auch um ein "Besser-Werden, ein Verzehren- und Überwältigen-Wollen" anderer Körper, Stämme und Kulturen geht.

Das Problem geht über Afghanistan hinaus. Afghanistan ist das erste Problem. Wir werden Terroristen-Netzwerke verfolgen, wo immer wir sie finden.

Donald Rumsfeld

Wären Kosmopolitismus und Differenzdenken hellhöriger und aufmerksamer gewesen; und würde es ihm nicht auch darum gehen, die Ideale der Aufklärung in anderer Form zu revitalisieren, hätten sie gemerkt, dass sowohl die Rede von der Ebenbürtigkeit und Gleichrangigkeit von Kulturen, Minderheiten und Meinungen, die friedlich und nebeneinander koexistieren, als auch der Traum eines bunten Gemisches hybrider Formen und Gestalten, das sich als Resultat gegenseitig sich befruchtender Kulturen einstellt, immer schon etwas Rührendes, Verräterisches und Abenteuerliches hatten. Nicht Teilhabe oder Einschluss, Stimme haben oder Eingebundensein sind entscheidend, zwingend und durchschlagend ist, wer die Spielregeln im Diskurs bestimmt, sie der aktuellen Lage anpassen und neu definieren kann.

Dass eine multilaterale, in Beobachter zweiter Ordnung aufgelöste Welt friedlicher, höherstehender oder aufgeklärter sein könnte als eine bipolare oder gar unilaterale unter Beobachtung, Führung und Steuerung einer Weltmacht, ist nicht nur vermessen, der Nachweis dafür ist nirgendwo und von niemanden erbracht worden. Weder von den Derridisten noch von den Luhmaniacs. Die Äußerungen des weisen Oberhäuptlings aller Zögerer und Zauderer zu den Angriffen waren schlicht und ergreifend matt und mau; und der Soziologenmeister hätte vermutlich, wie schon seine Eingaben zu Desert Storm gezeigt haben, auch nicht gerade durch Klartext geglänzt, wäre er noch am Leben.

Schon damals stimmte jener nach dem Golfkrieg formulierte und seitdem in den Feuilletons bis zum Überdruss nachgeplapperte Axiom: "Was wir über unsere [...] Welt [...] wissen, wissen wir durch die Massenmedien" ebenso wenig wie in diesen Tagen, wo die Sichtbarkeit zur Falle und das Mediale unter permanenten Verdacht und Vorbehalt gestellt wird. Darum würde ich warnen, eine Probe aufs Exempel zu machen, Multipolarität in weltbürgerlicher Absicht zum weltpolitischen Experiment zu erheben und sich davon weniger menschliches Leid, Angst oder Not zu versprechen.

Dass ausgerechnet die Vereinigten Staaten, Vorreiter in Sachen Hybridisierung und Capuccinisierung, von der Globalisten sich die Endlösung aller kulturellen und ethnische Konflikte erwarten, dem Blowback von Demütigung, verletztem Stolz und fanatischem Hass ausgesetzt sind, spricht Bände. Nähme man ethnographische Studien der letzten Jahre ernst, so wüsste man, dass auch Mischformen und Gemenge, und nicht nur cleane Formen, Horte von Terror und Gewalt sind. Der Islam der Taliban ist dafür ein ebenso gutes wie besonders drastisches Beispiel. Gerade hierzulande wird man nicht müde, auf die Uneigentlichkeit dieser Form des Islams hinzuweisen. Und riskierte man einen ungeschminkten Blick auf metropolitane oder periphere zones of turmoil in Los Angeles, Bradford oder anderen Orten und Gegenden, dann müsste man zugeben, dass es dort mit den Diskursen, die Markt und Kapital schreiben, die Eliten des Westens predigen und von Weltoffenheit, Toleranz und Weltbürgertum künden, nicht weit her ist.

Universalistische und globalisierungskritische Diskurse täuschen sich, wenn sie zwischen Markt und Anschluss, Geoökonomie und politischer Globalisierung einen Widerspruch entdecken, den es politisch zu beheben gelte. Freihandel und liberale Demokratie, offene Zugänge und der free flow of information gehören zusammen wie die Henne und das Ei. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Tertium non datur.

Gerade der Clash of Civilization, den Sam Huntington prophezeit und al-Qaida offenbar ins Werk setzen will, zeigt, dass der Traum von einem weltweiten Sieg der Demokratie und des Marktes, die Hoffnung auf eine vielfältige und multipolare Welt gleichberechtigter Partner ein frommer Wunsch bleiben wird. Mit dem "Ende der Geschichte", das einer in Funktionsbereiche differenzierte Weltgesellschaft folgen soll, werden aber nur jene "realen Machtverhältnisse" verschleiert und verheimlicht, die weiter mit geographischen Sonderlagen, territorialer Einhegung und hegemonialer Politik operieren.

Eine Politik der räumlichen und kulturellen Abgrenzung und Abschottung, wird wohl eine realistischere Lösung bieten. Der aufkommende wirtschaftliche Protektionismus, der wieder die Runde macht, seitdem eine globale Rezession droht, beweist das wie der sog. Otto-Katalog, der vor allem Migranten unter Generalverdacht stellt. Das Bekenntnis zu kanonischen und anderen heiligen Schriften ersetzt dort Abstammung und Herkunft. Schläfern und Assassinen wird das keine Probleme bereiten. Sie werden das bereitwillig abliefern.

The networked society is our creation and our environment. In our environment we do not need control, we do not need security. We need freedom and friendship.

The Munich Volksbad Declaration

Ins Schmunzeln gerät man allerdings, wenn wider jeglicher Realpolitik, in einem Anfall schwärmerischen Denkens machtvergessen und raumblind Vernetzung, freier Access und Selbstorganisation als Gegengift und Allheilmittel gegen die böse Welt von Geld, Macht, Fanatismus und Hass empfohlen werden wie jüngst auf dem Making World Festival.

"The free circulation of innovation, ideas, and persons" predigen seit Jahren auch Turbokapitalisten, Infowarriors und Verfechter der Third Wave. Diese Ideologie dient ausschließlich den reichen Ländern des Westens, und nicht zu vergessen, den Eliten in den ärmeren Gegenden, die durch diese Ideen und den American Way of life sozialisiert wurden. Unter dem Begriff der Soft Power ist sie längst im Umlauf. Zum Schmunzeln zwingt aber auch, wenn transnationale Pässe an alle offenkundig Gutwilligen verteilt werden und der künftige Staat als Club und Service-Provider vorgestellt wird. Als ob der nicht gerade elektromagnetisch aufrüsten, neue Kennnummern für die Identität erfinden und genau dies als Dienstleistung seinen Bürgern verkaufen und seine Bevölkerung damit auf den "Krieg neuen Typs" einstimmen würde. Die Politik des Als-ob, die sich in semiotischem Rebellentum oder Erklärungen entlädt, die in "Volksbädern" oder anderswo gemacht und signiert werden, ändert an kommunikativen, kulturellen und realpolitischen Grenzen, die Gruppen, Stammesverbände und Organisationen voneinander trennen, herzlich wenig.

Die Hoffnung, dass Medien und Techniken, die Geld, Kapital und Informationen um den Erdball jagen, auch zum Totengräber des Weltkapitalismus werden könnten, wenn sie von gutwilligen und gutmeinenden Hacktivisten, Piraten und anderen Medienpartisanen eingesetzt und gebraucht werden, nimmt offenbar bereits religiöse Züge an. Dass das Netz "uns", den Mitgliedern der "transnationalen Republik", gehört und "wir" uns unseres entwendeten Spielzeugs nur wieder bemächtigen müssten, damit wieder alles gut würde, glaubt doch längst kein Mensch mehr. Nicht einmal John Perry Barlow, der dieses Virus zunächst in die Welt gesetzt hat.

Dem "global war of fanaticism" die Welt von "intelligence, creativity, and love" entgegenzuhalten, erinnert eher an die Glaubenssprüche der Jünger von Haight Ashbury. Auch die träumten von Love and Peace, während Vietnam in Flammen aufging. Es ist schon erstaunlich, wie viel Kraft, Energie und Gottvertrauen immer noch in die Religion des Anarchismus, die Freiheit des Individuums und die Libertinage investiert werden.

Dass Grenzen und Horizonte sich permanent verschieben und auflösen, steht dabei gar nicht in Frage. Sie sind permanent im Fluss. Doch folgen ihrer Verschiebung und Verflüssigung prompt neue auf dem Fuß. "A networked society without borders" bleibt deshalb Ankündigung und "Absichtserklärung", ernst genommen kann sie jedenfalls nicht. Eine atopische, aseptische und grenzenlose Weltgesellschaft, die ihre Besorgnisse, Nöte und Konflikte ohne Einhegung, Gewalt, Krieg und Leid löst, bleibt abstrakt und bloße Vorstellung. Dass sie des Einzigen Eigentum ist, auch daran gemahnt der 11. September. Weswegen der Engel der Geschichte, solange der Tag der Entscheidung nicht gekommen ist, an dem die "letzten Dinge" geregelt werden, niemals arbeitslos wird.