Türkei: Demokratie schafft sich selber ab

Das Parlament in Ankara beschloss Aufhebung der Immunität von 138 Abgeordneten - ein Meilenstein in Richtung Alleinherrschaft Erdogans

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"Ein Abgeordneter, der vor oder nach der Wahl eine Straftat begangen haben soll, darf nicht festgenommen, verhört, verhaftet oder vor Gericht gestellt werden, wenn die Versammlung nicht anderweitig entscheidet", so steht es in § 83 der türkischen Verfassung. Konkret: das Parlament muss die Immunität von Abgeordneten offiziell aufheben, bevor Strafverfahren gegen sie eingeleitet werden können.

So geschehen am Freitagmorgen in Ankara: 373 der 550 Abgeordneten stimmten für die Aufhebung der Immunität von 138 Abgeordneten aus verschiedenen Parteien; also etwa ein Viertel aller Abgeordneten.

Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gehören 27 zur AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) mit 317 Sitzen, 51 zur Mitte-Links-Partei CHP (Republikanische Volkspartei) mit 133 Sitzen, 50 zur pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) mit 59 Sitzen und neun zur faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) mit 40 Sitzen.

Betroffen ist also fast die gesamte Fraktion der pro-kurdischen HDP und mehr als ein Drittel aller Betroffenen. Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft ihnen vor, der verlängerte Arm der Terrororganisation PKK zu sein.

138 Abgeordnete stimmten gegen den Antrag. Da davon auszugehen ist, dass die HDP-Fraktion geschlossen dagegen stimmte, heißt das, dass nicht einmal alle Betroffenen sich klar positionierten.

Die Entscheidung wird von vielen deutschen Politikerinnen und Politikern kritisiert. So schreibt z.B. Cindi Tuncel, friedenspolitischer Sprecher der Links-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft: "Die HDP hat bei der letzten Wahl, trotz islamistischer Bombenanschläge auf ihre Wahlkampfkundgebungen und enormer staatlicher Repression, über 5 Millionen Stimmen erlangt. Das AKP-Regime will nun fast die gesamte Fraktion unter Anklage stellen - mit Hilfe eines sog. ‚Antiterrorparagraphen‘, mit dem auch andere DissidentInnen und immer mehr JournalistInnen inhaftiert werden. In der Türkei droht eine Welle politischer Schauprozesse. Der Friedensprozess wird damit auch auf parlamentarischer Ebene vom Despoten Erdogan beerdigt."

Sollte es zu einem Prozess gegen Abgeordnete kommen und diese verurteilt werden, verlieren sie ihr Recht auf aktive Mandatsausübung - und die Partei den Sitz im Parlament. Damit wäre die HDP im türkischen Parlament quasi Geschichte.

Der Fall Leyla Zana

Unter den betroffenen HDP-Abgeordneten befindet sich u.a. Leyla Zana, die diese Prozedur das zweite Mal über sich ergehen lassen muss. Nach den Parlamentswahlen 1991 trug die Journalistin bei ihrem Amtseid am 6. November 1991 ein Band in den traditionellen kurdischen Farben Gelb, Grün und Rot um den Kopf. Den Loyalitätseid legte sie, so wie es das Gesetz verlangte, in türkischer Sprache ab, fügte dann aber in kurdischer Sprache hinzu: "Es lebe die türkisch-kurdische Brüderschaft." Ihre Partei (SHP/Sozialdemokratische Populistische Partei) wurde verboten, am 2. März 1994 wurde die parlamentarische Immunität Leyla Zanas und sechs ihrer Fraktionskollegen aufgehoben. Das Parlament begrüßte die Entscheidung mit Standing Ovations.

Ihr wurde Unterstützung einer terroristischen Organisation vorgeworfen, der Staatsanwalt forderte die Todesstrafe. Das Gericht verurteilte Leyla Zana und ihre Kollegen im Dezember 1994 zu 15 Jahren Haft. 1998 wurde ihre Strafe um zwei Jahre erhöht. Erst im Juni 2004 wurde sie frei gelassen, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EuGH) bereits 2002 das Vorgehen der türkischen Behörden für rechtswidrig erklärte und ihr eine Entschädigung von 50.000 € zusprach.

Journalistinnen aus ganz Europa gründeten damals die Initiative "Einen Tag für Leyla Zana" und boten der türkischen Regierung an, im Wechsel jeweils einen Tag Haft für ihre Kollegin, Mutter zweier Kinder, zu übernehmen. Die türkische Regierung ignorierte indes dieses Angebot. Der Fall Leyla Zana steht beispielhaft für das, was die HDP-Abgeordneten zu befürchten haben.

Die anderen Abgeordneten quer durch alle Parlamentsparteien sind quasi Kollateralschäden im Kampf Erdogans gegen die HDP. Diese hatte ihm bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 einen Strich durch die Rechnung gemacht, aus den Wahlen quasi als Alleinherrscher hervorzugehen. Der frühere Ministerpräsident plante eine Machtkonzentration über Parlament, Justiz und Militär in seinen Händen. Dazu hätte die AKP allerdings die absolute Mehrheit benötigt.

Welt-Korrspondent Deniz Yücel führt die Absurdität der Vorwürfe gegen die Abgeordneten vor Augen, von denen einige noch gar nicht wissen, dass sie sie begehen werden, da sie z.B. auf August 2016 datiert sind.

Vermutlich werden die Verfahren gegen den größten Teil der übrigen betroffenen Abgeordneten mehr oder weniger im Sand verlaufen, der eine oder die andere wird vielleicht wegen Amtsmissbrauch und/oder Korruption belangt.

Bundesregierung äußert Sorge

Auch Justizminister Heiko Maas (SPD) kritisierte den Vorgang. "Kritische Abgeordnete dürfen nicht willkürlich der Strafverfolgung ausgesetzt sein. Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, darf sie ihren Rechtsstaat nicht aushöhlen", wurde er u.a. im Radiosender NDR1 zitiert. Die Nivellierung der Anti-Terrorgesetze, die Grundlage der befürchteten Schauprozesse gegen die HDP-Politiker, ist Teil der Auflagen der EU im Hinblick auf die Aufhebung der Visumspflicht.

Die Bundesregierung, so heißt auf deren Website, blickt "mit Sorge auf die zunehmende Polarisierung der innenpolitischen Debatte in der Türkei. Presse- und Meinungsfreiheit hätten eine zentrale Rolle für eine lebendige Demokratie, sagte Regierungssprecher Seibert. Das gelte auch für die gewählten Volksvertreter, deren Immunität nun aufgehoben wurde." Die Kanzlerin werde beim Treffen mit Recep Erdogan am Montag die "jüngsten innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei" ansprechen. Gewählte Vertreter müssten "ihr Mandat frei und unabhängig ausüben können".