Türkei: Der schmutzige Krieg unter Ausschaltung der Öffentlichkeit
Auch nach der offiziellen Beendigung der Militäroperationen in Diyarbakir werden weiter Angriffe gemeldet. In Yüksekova soll angeblich Giftgas zum Einsatz gekommen sein
Vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte wurde ein Antrag auf einstweilige Verfügung wegen der Menschenrechtsverletzungen und Tötungen in Cizre gestellt, berichtet die Informationsstelle Kurdistan (ISKU). Dem Bericht zufolge weist die türkische Regierung die Anschuldigungen zurück mit der Behauptung, "die betreffenden Personen hätten bei einem Gefecht ihr Leben verloren". Zitiert werden Augenzeugen, die dem widersprechen und türkischen Soldaten Hinrichtungen vorwerfen - "Ich zählte sie, genau 9 Personen, sie hatten keine Waffen. Ihnen gegenüber Soldaten, die Waffe auf sie gerichtet, wartend bis alle draußen waren. Plötzlich begannen die Soldaten zu schießen."
Auch aus dem abgesperrten Stadtteil Diyarbakir-Sur berichtet ISKU, auf Zeugenaussagen gestützt, von Gewalttaten und Toten, die weder mit der offiziellen Beendigung der türkischen Militäroperationen in Diyarbakir noch mit der Behauptung, die Personen seien bei Gefechten ums Leben gekommen, in Einklang zu bringen sind. In drei Tagen seit dem erklärten Ende der Militäroperationen seien 23 Menschen "ermordet" worden, so der Vorwurf.
Eine besondere Schärfe hat der Vorwurf, der am gestrigen Sonntag bekannt wurde. So sollen laut Informationen des kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit, Civaka Azad, chemische Waffen in Yüksekova eingesetzt worden sein. Die Stadt mit dem kurdischen Namen Gever liegt unweit der Grenze zum Iran, sie hat über 60.000 Einwohner.
Berichtet wird von bis zu 40 Toten bei Angriffen des türkischen Militärs in den Stadtvierteln Eski Kışla, Mezarlık ve Orman. Es handele sich dabei um einen Giftgasangriff, so der Vorwurf des HDP-Abgeordneten Nihat Akdoğan. Er stützt sich dabei auf Aussagen von Hilfesuchenden aus den angegriffenen Viertel:
Die Frau sagte mir: ‘Wir kriegen hier keine Luft. Sie verbrennen unsere Häuser. Hier wird ein anderes Gas eingesetzt.’ Wir befürchten, dass zwischen 30 und 40 Menschen durch Verbrennungen ihr Leben gelassen haben.
Aus einem anderen Stadtteil wurde der Nachrichtenagentur DICLE per SMS gemeldet, dass 30 Menschen gefunden wurden, "die völlig verbrannt und niedergeschmolzen sind. Keiner von ihnen wird identifiziert werden können. Das Militär bewegt sich hier mit Gasmasken und Sauerstoffflaschen auf dem Rücken".
Der Gouverneur von Colêmerg (Hakkari) bestreitet den Giftgaseinsatz. Ihm wird vonseiten der HDP allerdings vorgeworfen, dass er die Aufklärung blockiert, da er weder die HDP-Abgeordneten noch Menschenrechtsorganisationen in die Stadtteile hineinlasse, um die Richtigkeit der Aussagen zu überprüfen.
Weitere Akademiker suspendiert
Indessen geht die Ausschaltung der Opposition, bzw. der kritischen Öffentlichkeit weiter: Drei Professoren wurden in den letzten Tagen ihres Amtes enthoben, weil sie eine Petition von Wissenschaftlern unterschrieben haben, die sich für den Frieden einsetzten.
Ein britischer Mathematikprofessor, seit 25 Jahren in der Türkei lebend und lehrend, musste die Türkei mit seiner Familie verlassen, weil in seiner Einkaufstasche ein Flugblatt der HDP mit der Einladung zu einem Newrozfest gefunden wurde. Ihm wird "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" vorgeworfen.
Der Direktor des Europäischen Gewerkschaftskomitees für Bildung ETUCE, Martin Rømer, schickte einen Protestbrief an den EU Präsidenten Donald Tusk und den Präsidenten des Europaparlaments Martin Schulz.
Auch ausländische kritische Journalisten stehen im Visier der türkischen Regierung. Der jüngste Fall ist der bekannte Spiegel-Korrespondent Hasnain Kasim, der das Land unfreiwillig verlässt. Zuvor hatte der Fall des bekannten Journalisten Deniz Yücel, der für die Zeitung ‚Die Welt‘ arbeitet und aus der Türkei berichtete, gezeigt, wie repressiv und brachial die türkische Regierung mit dem Grundrecht Meinungsfreiheit umgeht (Davutoglus Zorn auf Journalisten).
Verschiedene Medien berichteten, dass die Welt Yücel aus der Türkei abgezogen hat, eine Bestätigung von ihm selbst gibt es aber noch nicht. Anders als Hasnain Kasim ist Deniz Yücel deutscher und türkischer Staatsbürger. Daher ist sein Aufenthalt in der Türkei nicht an die Akkreditierung als Journalist in der Türkei gebunden.
Immunität von den meisten Abgeordneten soll aufgehoben werden
Es liegen 506 Anträge auf Aufhebung der Immunität vor, die Davutoglu angeblich alle genehmigen lassen will - wenn nötig mit einer Verfassungsänderung.
Das türkische Parlament hat 550 Sitze. Das heißt, auch die meisten AKP Politiker würden dann keine Immunität mehr genießen. Ursprünglich wollte Erdogan nur die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten, die CHP konterte mit Anträgen zur Aufhebung bei den AKP-Abgeordneten wegen Korruptionsvorwürfen.