Türkei: Forensikerin inhaftiert, nachdem sie Chemiewaffen-Verdacht aussprach
Der Vorsitzenden eines Ärzteverbands wird "Terrorpropaganda" und "Beleidigung der türkischen Nation" vorgeworfen. Menschenrechtsstiftung fordert Freilassung. IPPNW sprach sich bereits für internationale Untersuchung aus.
Bisher kamen die Anschuldigungen aus den kurdischen Gebieten der Türkei und des Irak, sowie häufig von Personen, die selbst in die Kämpfe mit der türkischen Armee verwickelt oder Teil der gegnerischen Strukturen waren. Inzwischen hat auch die Vorsitzende des türkischen Ärzteverbands TTB, Sebnem Korur Fincancı, den Verdacht geäußert, dass dort von türkischer Seite verbotene Chemiewaffen gegen Kampfeinheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingesetzt wurden. Die Forensikerin hatte zuvor Bildmaterial gesichtet.
Nachdem sie eine entsprechende Untersuchung gefordert hatte, ließ ihre Festnahme nicht lange auf sich warten. Laut einem Bericht der kurdischen Nachrichtenagentur ANF wurde gegen die Trägerin des Hessischen Friedenspreises ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, nachdem sie angesichts der Symptome, die Verletzte auf Videos zeigten, von Hinweisen auf den Einsatz von Nervenkampfstoffen gesprochen hatte.
Entsprechende Äußerungen gegenüber dem kurdischen TV-Sender Medya Haber riefen demnach in Ankara die Oberstaatsanwaltschaft auf den Plan. Die Forensikerin hatte vom mutmaßlichen Einsatz chemischer Kampfstoffe durch die türkische Armee im Nordirak gesprochen.
Deshalb wird sie beschuldigt, Propaganda für eine "Terrororganisation" betrieben und gegen den berüchtigten Artikel 301 (ursprünglich "Herabwürdigung des Türkentums") verstoßen zu haben. Der Paragraph regelt die Bestrafung von "Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der Türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates".
Brachte ein rechtsextremer Abgeordneter den Stein ins Rollen?
Besonders echauffiert hatte sich über Fincancis Aussagen ein Abgeordneter der rechtsextremen MHP, die als Juniorpartner von Recep Tayyip Erdogans AKP das Land mitregiert. Der Abgeordnete Muhammed Levent Bülbül hatte dem Ärzteverband bereits im Juli sowohl eine Nähe zur linken PKK als auch zur islamisch-konservativen Fethullah-Gülen-Bewegung unterstellt.
Beides ist ideologisch kaum vereinbar, da die Gülen-Bewegung trotz Zerwürfnis inhaltlich mehr mit Erdogans Regierungspartei verbindet als mit der PKK. Anlass für Bülbüls Unterstellung war damals eine Auseinandersetzung im türkischen Parlament über die Arbeitsbedingungen im türkischen Gesundheitssystem, die der Ärzteverband bemängelt hatte.
Die Menschenrechtsstiftung in der Türkei (TIHV), deren Vorstand Korur Fincancı ebenfalls angehört, fordert ihre Freilassung: "Die TTB-Präsidentin und Vorstandsmitglied unserer Stiftung, Prof. Dr. Sebnem Korur Fincancı, wurde rechtswidrig festgenommen. Sie muss sofort freigelassen werden", erklärte die Stiftung an diesem Mittwoch.
Eine unabhängige Untersuchung durch die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) im Nordirak hatten Mitte Oktober auch die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) gefordert.