Türkei: IS-Anschlag auf kurdisch-alevitische Hochzeit in Gaziantep
Mehr als 50 Tote bei Selbstmordanschlag eines Jugendlichen
In der Nacht zum 21. August verübte ein mit einer Sprengstoffweste ausgerüsteter 12-14-jähriger in der Grenzstadt Gaziantep (kurdisch: Antep) ein Massaker an einer kurdisch-alevitischen Hochzeitfeier. Laut jüngsten Meldungen sind 53 Personen getötet worden, 30 weitere der über hundert Verletzten schweben in akuter Lebensgefahr.
Laut türkischer Regierung deutet alles auf einen IS Anschlag hin. Die Ausführung der Tat und das Angriffsziel lassen dies ebenfalls plausibel erscheinen. Wie bei den Anschlägen von Suruç und Ankara 2015 richtete sich der Anschlag nicht gegen das Regierungslager in der Türkei, sondern gegen kurdische Aleviten, also Angehörige einer in der Türkei mehrfach diskriminierten gesellschaftlichen Gruppe.
Massaker gegen Aleviten
Große Teile der alevitischen Bevölkerung in der Türkei stehen der linken und der kurdischen Bewegung nahe. In der Geschichte der Republik Türkei wurde die alevitische Bevölkerung Opfer mehrerer Massaker, durchgeführt von der monistisch eingestellten, sunnitisch-türkisch ausgerichteten Regierung und nationalistisch aufgehetzten Bevölkerungsteilen.
1938 wurden in Dersim mehr als 80.000 alevitisch-kurdische Männer, Frauen und Kinder in einer "Aufstandsbekämpfungsaktion" umgebracht. Die Region Dersim wurde in der darauffolgenden Zeit massiven Umsiedlungsprogrammen unterzogen. 1978 wurden in Maraş mehrere hundert kurdische Aleviten von einem türkisch nationalistischen Mob umgebracht, mehr als 500 Häuser niedergebrannt und über 300 Geschäfte geplündert (Türkei: Schachzüge mit Flüchtlingen).
Sie riefen Parolen wie, "Wer Aleviten tötet, kommt in den Himmel" und brachten Männer, Frauen und Kinder mit Knüppeln und Messern um. Sie griffen dabei eine osmanische Parole auf, die hieß "Wer sieben Aleviten umbringt, kommt in den Himmel." Etliche weitere Massaker folgten.
Im Bewusstsein der alevitischen Bevölkerung ist tief verankert, dass das Massaker von Maraş von staatlichen Kräften organisiert worden war. Das Massaker löste eine Fluchtbewegung von zehntausenden Aleviten nach Europa aus und sorgte für ein gesellschaftliches Trauma, so dass viele Menschen aus Maraş aufhörten, ihren Kindern Kurdisch zu lehren, um ihr eigenes Leben zu schützen.
Da zehntausende Aleviten aus der Region Maraş, Antep, Elazığ flohen, wurde an ihrer Stelle eine nationalistische, sunnitische Bevölkerung angesiedelt, so dass heute in dieser ehemals linken Region eine nationalistische und islamistische Hegemonie besteht und die übrig gebliebene alevitische Bevölkerung unter starkem Druck steht.
"Sie haben nichts anderes verdient als das Schwert"
Verschärft wird die Situation mit der Errichtung eines AFAD-Camps für Geflüchtete in der Nähe von Maraş. Die staatliche Organisation AFAD ist vor allem aufgrund der Versorgung von Dschihadisten und der Nutzung ihrer Lager als Hinterland für Dschihadisten berüchtigt. In den AFAD Camps werden vor allem sunnitische Geflüchtete untergebracht, während z.B. die Eziden massiven Diskriminierungen und Angriffen ausgesetzt sind.
Nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 begannen neue Angriffswellen gegen Aleviten, die mit der Opposition gleichgesetzt werden. Sowohl in Malatya als auch in Elbistan versuchten türkisch nationalistische Mobs alevitische Viertel zu stürmen. Zumindest Teile der Vertreter der "Demokratie" in der Türkei sind zu IS-ähnlichen Praxen bereit. Hingewiesen sei hier nur, wie in Istanbul jungen Militärschülern die Kehle unter "Allahu Ekber"-Rufen durchtrennt wurde.
Es scheint gerade eine Form der Identifikation mit dem IS stattzufinden. Darauf weist hin, dass sowohl türkische Soldaten und Polizisten immer wieder mit Parolen des IS in zerstörten kurdischen Städten posieren. Und einer der ersten Akte der Demonstranten für "Demokratie" war es, das Mahnmal für die im Oktober letzten Jahres vom IS ermordeten Friedensdemonstranten zu zerstören.
Immer wieder gibt es Fatwas, wie die des IS Ideologen Abu Ubeyd, die zum systematischen Mord an Aleviten aufrufen. Angelehnt an die osmanische Vorlage, stellt Abu Ubeyd klar:
Sie haben nichts anderes verdient als das Schwert. Daher sollten die Brüder im Islam sich verabreden, um die Aleviten zu töten und ihre Besitztümer zu plündern.
Hier wird die osmanische Vorlage fast im Wortlaut vom IS zitiert. Es besteht ebenfalls eine weitere Verbindung zum Anschlag vom 10. Oktober in Ankara, bei dem über 100 Friedensdemonstrantinnen und Demonstranten getötet wurden. In den Ermittlungsakten zum dem Anschlag wurden explizit Angriffe auf "PKK Hochzeitsfeiern" angekündigt. Das IS Dokument ging bei einer Festnahme-Operation in Antep im Mai 2016 in die Ermittlungsakten ein.
Die Strategie des IS und die Reaktion der türkischen Regierung
Der HDP Abgeordnete von Antep, Mahmut Torul erklärte:
Wir haben schon dutzende Male Anfragen wegen der Organisierung von ISIS in der Stadt gestellt und versucht, sie an die Verantwortlichen weiterzuleiten. Aber niemand hat unsere Warnungen ernst genommen. Wir haben dieses Massaker heute erlebt, weil keine Maßnahmen ergriffen worden sind. Der Gouverneur und die Verantwortlichen für Antep haben uns sogar angegriffen, weil wir ISIS so stark thematisieren. Sie sagten wir würden den Namen Anteps in der Öffentlichkeit schlecht machen.
Selahattin Demirtaş, der Covorsitzende der HDP weist auf ein bezeichnendes Muster bei diesen Anschlägen hin:
Der Anschlag von Suruç und die darauf folgende Ermordung von zwei jungen Polizisten im Schlaf, waren ein gut berechnetes Szenario um den Krieg auszulösen. Leider waren sie erfolgreich… Am Tag des Massakers von Ankara, dem 10. Oktober hatte die KCK vor, einen Waffenstillstand auszurufen, und wieder wurde an jenem Tag ein Massaker begangen und sie waren erfolgreich. Der Aufruf zum Waffenstillstand ging in diesem Chaos unter. Gestern gab es ebenfalls eine Erklärung in der die KCK einen Waffenstillstand suchte, dann fand der Angriff von Antep statt. Dies ist kein Zufall, genauso wenig wie die Menschen auf die gezielt wurde und der Ort keiner sind.
Die Strategie dabei ist deutlich in den in Antep im Mai sichergestellten Dokumenten des IS markiert, es gehe darum, einen türkisch-kurdischen Konflikt anzufachen und ihn in einen konfessionellen Krieg umzuwandeln. Vertreter der AKP und der Regierung haben öffentlich das Bedauern über den Anschlag zum Ausdruck gemacht, schon der Anschlag von Suruç wurde vom türkischen Staat genutzt, sich selbst als Opfer des Terrors darzustellen.
Auch in seiner Rede am 21.08. deutet Erdogan eine solche Linie an, indem er den IS, die PKK, Fethullah Gülen, die PYD und die YPG als Terrororganisationen gleichsetzte, die bis zum Letzten zu bekämpfen seien. Allerdings sind die Opfer des Terrors meist unter denjenigen zu finden, die vom türkischen Staat verfolgt, inhaftiert, verschwinden gelassen oder im Krieg gegen kurdische Städte umgebracht werden.
Dies zeigt sich auch daran, dass gerade auf den Beerdigungen der beim Anschlag getöteten massenhaft Parolen für den Inhaftierten PKK Vorsitzenden Abdullah Öcalan gerufen worden sind. Viele sind davon überzeugt, dass der IS ohne die Unterstützung durch den türkischen Staat gegen die Selbstverwaltung in Rojava nicht die Stärke gewinnen können, die er heute hat.
In diesem Kontext ist es zu verstehen, dass auf den Begräbnissen der Getöteten die Parole "Mörder Erdoğan" immer wieder gerufen wird und AKP-Abgeordnete und Bürgermeister von den Zeremonien von der Bevölkerung verjagt werden.