Türkei: Schachzüge mit Flüchtlingen
Flüchtlingscamp für sunnitische Syrer soll inmitten eines alevitischen Gebietes entstehen
In der südtürkischen Provinz Kahramanmaras, in der überwiegend alevitische Kurden leben, soll neben einem alevitischem Dorf ein Containercamp für 27.000 sunnitische Syrer entstehen. Die Bevölkerung ist besorgt und protestiert. Viele sehen darin einen weiteren Versuch der türkischen Regierung, die kurdisch geprägten Gebiete zu islamisieren und die kurdische Kultur zu vernichten.
Die Geschichte vom Zerfall des Osmanischen Reiches und die Entstehung des türkischen Nationalstaates sind geprägt von zahlreichen Massakern an der nicht-muslimischen Bevölkerung und der Assimilierung von ethnischen und religiösen Minderheiten.
Mit der Gründung der Türkischen Republik wurde aus dem Vielvölkerstaat ein Nationalstaat, in dem sich unter dem Begriff "Türke" fortan alle identifizieren sollten. Dies ging - im Unterschied zu den meisten europäischen Staaten - einher mit der Verleugnung und Zerstörung der alteingesessenen Kulturen. Ihre Religion, Sprache, Bräuche, traditionelle Kleidung wurden verboten.
Unterdrückung von Minderheiten
Der Islam wurde als Staatsreligion in der laizistischen Verfassung abgeschafft (Einf. der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine irreführende Formulierung gestrichen). Dessenungeachtet blieb die privilegierte Religion der Türkei der sunnitische Staatsislam, christliche Kirchen und Klöster führten ein Schattendasein, wurden enteignet und verfielen. Auch ezidische (jesidische) Dörfer und Heiligtümer wurden wie viele christliche Kirchen enteignet und verleugnet. Armenische, alevitische, aramäische und ezidische Dörfer und Häuser wurden in den verschiedenen Vertreibungsperioden des letzten Jahrhunderts von muslimischen türkischen Staatsbürgern beschlagnahmt und bewohnt.
Ziel war die Unterwerfung, Zerstreuung und Assimilierung der Minderheiten. Deren Geschichte sollte aus dem kollektiven historischen Gedächtnis gestrichen werden. Was ja auch teilweise gelungen ist. Gerade bei den älteren Kurden gibt es heute einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an assimilierten, konservativen Kurden, die ihre eigene Kultur ob des Anpassungsdruckes, oder um wirtschaftlich zu überleben, verdrängt haben. Ihre Kinder sprechen nicht mehr ihre Muttersprache, weil diese bis vor wenigen Jahren in der Türkei verboten war.
Heute gibt es wieder eine Rückbesinnung auf die kulturellen Wurzeln. Viele junge Kurden und Kurdinnen lernen wieder ihre Sprache, zelebrieren ihre Feste wie das Newroz-Fest, was die türkische Regierung immer wieder versucht zu verbieten oder umzudeuten als türkische Folklore der "Bergtürken". Der Kampf gegen die kurdische Kultur erlebt heute erneut einen Höhepunkt.
Wieder wird versucht, durch die Zerstörung von Dörfern und historischen Gebäuden in den kurdisch geprägten Städten und dem vermeintlichen modernen Wiederaufbau der TOKI-Sozialbau-Siedlungen, die der Region angeblich Fortschritt und Wohlstand bringen sollen - tatsächlich aber die Gentrifizierung vorantreiben -, die kurdische Geschichte zu eliminieren.
Das Massaker von Kahramanmaras
Das Massaker von Kahramanmaras im Jahr 1978, keine 40 Jahre her, ist bei den alten wie jungen Aleviten noch sehr präsent (siehe: Das schwere Los der Abtrünnigen). 1978 wurden in Maras, wie die Provinz unter Aleviten genannt wird, bei einem Pogrom hunderte von Aleviten von ultranationalistischen Türken getötet, über 500 Häuser und 300 Betriebe geplündert. Noch heute verbietet die türkische Regierung Gedenkveranstaltungen an das Massaker.
Jedes Jahr wird die Gedenkveranstaltung in Maras von Polizisten gewaltsam aufgelöst. Nun soll neben einem alevitischen Dorf ein Flüchtlingscamp für über 27.000 Flüchtlinge gebaut werden. Höchstwahrscheinlich mit den zugesagten Milliarden aus Europa. Auf dem Gebiet des Containercamps sollen sich mehrere alevitische Heiligenstätten befinden, die für das Camp zerstört werden sollen.
Sensible Provinz
Ali Öztunc, ein Mitglied der sozialdemokratischen, kemalistischen Oppositionspartei CHP berichtet, dass das Terrain für das Camp eigentlich als Naturschutzgebiet galt und gesetzwidrig konfisziert wurde. Die lokalen Behörden wurden in den Entscheidungsprozess nicht mit einbezogen. So weiß niemand, wer da eigentlich angesiedelt werden soll. Befürchtet wird, dass sich unter den Geflüchteten IS-Mitglieder oder Kämpfer der al-Nusra befinden könnten, die aufgrund der Erfolge der SDF und der europäischen Allianz aus Nordsyrien fliehen mussten.
Die Hurriyet Daily News berichtet, dass die Gemeinden sehr unruhig sind und dass Maras aufgrund des Massakers 1978 zu den sensiblen Provinzen in der Türkei gehört, wo keine zusätzlichen Spannungen geschaffen werden sollten.
Die Dorfbewohner haben einen Appell an die Behörden gerichtet, in dem ihre Befürchtung zum Ausdruck gebracht wird, dass syrische Dschihadisten dort angesiedelt werden sollen. Dass sie sich nicht generell gegen die Unterbringung von Flüchtlingen aussprechen, darauf legt Salman Akdeniz, der Vorsitzende des Pir Sultan Abdal Kulturvereins (PSAKD) wert:
Um Missverständnisse zu vermeiden: Unser Einspruch richtet sich nicht gegen die Flüchtlinge. Wir sind über die Bestimmung der Unterkünfte beunruhigt und die Möglichkeit, dass Dschihadisten des IS und der al-Nusra-Front hierher kommen und uns in die syrischen Bürgerkrieg verstricken.
Hurriyet Daily News
Indem die türkische Regierung die sunnitischen Flüchtlinge mit ihrer Propaganda für sich gewinnen will, kann sie die Stimmung im Südosten durch ihre Siedlungspolitik zu ihren Gunsten beeinflussen.
Denn auch die Kurden sind keine homogene Gruppe. Es gibt assimilierte nationalistische Kurden mit rechtsradikalem Gedankengut, konservative AKP-Anhänger, es gibt demokratisch-kemalistisch eingestellte Kurden, es gibt linke nationalistische Splittergruppen, und es gibt - zunehmend mehr - Anhänger des demokratischen Konföderalismus, wie dies die PKK propagiert.
Bislang konnte mit diesen Widersprüche in den Gebieten gut umgegangen werden - solange man unter sich war. Man hat sich respektiert und die Einflusssphären akzeptiert. Wenn jetzt aber die sunnitischen Kurden durch die geplante Siedlungspolitik der Regierung Oberwasser bekommen, wird diese Region über Jahre hinweg ein Krisenherd.
Ausnützen von Spannungen
Denn, wie Kenner der Situation vor Ort berichten, sind die meisten, von der türkischen Regierung privilegierten syrischen Flüchtlinge Sunniten. Diejenigen syrischen kurdischen Flüchtlinge aus Rojava, die Gegner der PYD sind, werden propagandistisch instrumentalisiert. Es wird berichtet, dass die KDP-S, der syrische Ableger der Barzani-Partei, die das etablierte System in Rojava ebenso wie die Türkei bekämpft, mithilfe der KDP im Irak die Flüchtlinge aus Rojava über die Grenze in die Türkei schleust.
Erdoğan nutzt diese Interessenskonflikte unter den Kurden, um in seinem Land die "linken" Kurden und ihre Anhänger gegen konservative und moslemische Kurden auszuspielen. Er fordert - im Einklang mit der MHP -, dass wenn nötig, die "Gebiete in denen Militäroperationen stattfinden, komplett entvölkert und die Gebäude dort zerstört werden sollen".
Bei einer Sitzung mit den Dorfvorstehern von den kurdischen Gebieten sagte er: "Wenn es sein muss, müssen wir die kurdischen Städte zerstören."
Die Dorfvorsteher wurden in den 1980er Jahren eingeführt. Das sind staatlich bezahlte kurdische Männer, die dafür sorgen sollen, dass die PKK keinen Einfluss auf die Dörfer nehmen kann und Familien, die Mitglieder in der PKK haben, eliminiert werden. Nicht zu verwechseln mit den unabhängigen ‚Muhtar‘, den von der Dorfbevölkerung gewählten Dorfvorstehern. In den kurdischen Gebieten wurden und werden diese von der türkischen Regierung eingesetzt und bezahlt.