Türkei: Sechs Jahre Gefängnis für deutsche Staatsbürgerin
Das dritte Urteil innerhalb von drei Monaten gegen deutsche Staatsbürger in der Türkei
Die Kölner Sängerin Hozane Cane wurde in der Türkei zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Dies ist nun das dritte Urteil innerhalb von drei Monaten gegen deutsche Staatsbürger in der Türkei. Allen drei Deutschen wurde "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" oder "Terrorpropaganda" vorgeworfen. Stichhaltige Beweise dafür benötigt man in der Erdogan unterstellten Justiz offenbar schon lange nicht mehr.
In München fanden in der letzten Woche gleich drei Prozesse gegen zwei Journalisten und einen Schauspieler wegen ähnlicher Vorwürfe statt. Auch hier sind die Beweise äußerst fragwürdig. Wird München zum deutschen Ankara? Das gab es schon einmal: 1923. Da wurde in dem völkischen Kampfblatt "Heimatland" eine mehrteilige Serie über Atatürk veröffentlicht.
Der Historiker Stefan Ihrig spricht in der Zeit über das Vorbild, das Atatürk für Hitler bot. Auf der Titelseite von "Heimatland" war zu lesen: "Her mit der Angora-Regierung!" Angora war die alte Schreibweise für Ankara. So wie Atatürk eine Gegenbewegung gegen Konstantinopel mit Ankara als Zentrum organisiert hatte, sollte "in Deutschland der Sturz von München ausgehen. München sollte das deutsche Ankara werden", ist im Zeit-Artikel zu lesen.
Gefahrenland Türkei
Wer heute noch meint, in die Türkei reisen zu müssen, begibt sich in Gefahr. Nach wie vor werden in der Türkei immer wieder ausländische Staatsbürger, vor allem deutsche Staatsbürger mit kurdischen oder türkischen Wurzeln, wegen Erdogan-kritischen Äußerungen u.a. in den sozialen Medien festgenommen.
Das Auswärtige Amt hat seine Reisehinweise für die Türkei weiter verschärft und warnt nun auch vor regierungskritischen Meinungsäußerungen in sozialen Medien. Mitte April wurde der Kölner Sozialarbeiter Adil Demirci, der als freier Mitarbeiter für die linke Nachrichtenagentur Etha schrieb, in Istanbul verhaftet. Sein Prozess beginnt im November.
Ende Juni war die deutsche Staatsbürgerin Saide Inac, die unter dem Künstlernamen Hozan Cane als Sängerin auch in Deutschland bekannt ist, bei einer Wahlkampftour der prokurdischen HDP unter dem Vorwurf der "Terrorpropaganda" festgenommen worden.
Ihr Vergehen: Sie sang auf einer HDP-Veranstaltung kurdische Lieder. Nun wurde Anfang November die Kölnerin wegen angeblicher Mitgliedschaft in der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sechs Jahren und drei Monaten verurteilt.
Das Teilen Erdogan-kritischer Posts auf Facebook mit Fahnen von Abdullah Öcalan, darunter ein Foto von einer Demonstration in Köln, reicht schon aus, um für Jahre hinter Gittern zu verschwinden, auch wenn nicht bewiesen werden konnte, dass die inkriminierten Accounts überhaupt die von Cane sind.
Im Juli wurde der Deutsche Dennis E. im Küstenort Arsuz der südtürkischen Provinz Hatay unter dem Vorwand der Werbung für die PKK in den sozialen Medien, verhaftet. Die Küstenprovinz Hatay ist ein beliebtes Ziel von deutschen Urlaubern.
Ende September wurde der Hamburger Ilhami A. zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er angeblich über Facebook Terrorpropaganda für die PKK verbreitet hätte. Zwar ist Ilhami A. aus der Untersuchungshaft entlassen worden, aber er darf nicht ausreisen.
Anfang Oktober wurde Hüseyin M. aus Braunschweig zwar nach 45 Tagen Untersuchungshaft entlassen und ihm die Ausreise nach Deutschland erlaubt, aber die Anklage wegen Präsidentenbeleidigung - auch eine beliebte Anklage der türkischen Gerichte - bleibt bestehen. In die Türkei kann der 42-jährige Braunschweiger nun nicht mehr.
Beim Urteil sollte die zeitliche Nähe zum Erdogan-Besuch in Deutschland beachtet werden. Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff bezeichnete den Prozess gegen Hüseyin M. als "Lackmustest für die Annäherungsversprechen Erdogans beim Deutschlandbesuch Ende September (...) Der Gradmesser für ein angebliches Umdenken des autoritär regierenden Präsidenten sind nicht Versprechungen, sondern die Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit und dem Schutz der Bürgerrechte in der Türkei (…)". Ausschlaggebend werde sein, "ob im Verfahren gegen Hüseyin M. rechtsstaatliche Grundsätze oder Rachegelüste den Ausschlag geben".
Ende Oktober wurde dann allerdings der 29-jährige Gießener Patrick K. wegen angeblicher Mitgliedschaft in der kurdischen Selbstverteidigungseinheit YPG zu mehr als sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Die kurdischen Militäreinheiten Nordsyriens werden in der Türkei als Terrororganisation gelistet.
Patrick K. bestreitet die Vorwürfe. Nach Angaben seiner Familie war er zum Wandern in der türkisch-syrischen Grenzregion unterwegs. Dies bestätigte auch ein Freund Patricks, der ursprünglich mit ihm gemeinsam zum Wandern in die Türkei fahren wollte und kurzfristig verhindert war. Die kurdischen Berge der Südosttürkei sind ein beliebtes Wanderziel von Touristen.
Ist München heute das "deutsche Ankara"?
In einem Interview in der Zeit beschreibt der Historiker Stefan Ihrig, wie die deutschen Nazis in den dreißiger Jahren den türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk als völkischen Modernisierer feierten.
Der Nazi Hans Tröbst, Söldner im Dienst der damaligen Kemalisten, schrieb eine Menge Artikel über die Türkei und Atatürk. Darin lobte er die "völkische Reinigung" der Türkei. Die Artikelserie erschien bis kurz vor Hitlers Putschversuch vor dem Münchner Bierkeller. München sollte demnach das "deutsche Ankara" werden.
So soll Hitler gegenüber der türkischen Zeitung Milliyet Atatürk als "leuchtenden Stern" gepriesen haben. Zwar hegte Atatürk keinerlei Sympathien für Hitler, aber der Kemalismus war zu verschiedenen Seiten hin anschlussfähig. Dies scheint noch heute der Fall zu sein, wenn man sich die Politik der kemalistischen Partei CHP anschaut. In der Frage der Minderheiten in der Türkei ist sich die CHP durchaus mit der AKP und sogar mit der faschistischen MHP einig: Ein Volk, eine Sprache, eine Nation.
Heute könnte man beinahe meinen, die Münchner Justiz trete in alte Fußstapfen. Wenn man sich die Verfolgung und Kriminalisierung von Sympathisanten der linken kurdischen Community anschaut, könnte man sich glatt in Ankara statt in München wähnen.
So wurde der kurdische Aktivist Ahmet Cakmak zu Beginn dieser Woche zu einer Geldstrafe von 1.000 Euro verurteilt, weil er auf einer Demonstration für Afrin ein Lied gesungen hatte, in dem Abdullah Öcalan vorkommt.
Ebenfalls Anfang der Woche wurde Anselm Schindler, ein Münchner Journalist und Buchautor, wegen einer YPJ-Fahne zu 4.400 Euro Geldstrafe verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, bei der Demonstration gegen die NATO-"Sicherheitskonferenz" in München im Februar eine Fahne der kurdisch-nordsyrischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ getragen zu haben.
Am Donnerstag dieser Woche stand der Kabarettist und Schauspieler Ludo Vici vor dem selben Münchner Gericht wie zuvor Anselm Schindler, weil er auf Facebook einen Beitrag des Journalisten und Kommunikationswissenschaftlers Kerem Schamberger geteilt hat, der das Symbol der Volksverteidigungseinheiten YPG enthielt. Vici wurde allerdings freigesprochen.
Im Gegensatz zu dem Fall von Anselm Schindler sah das Gericht diesmal keine Nähe zur PKK durch das Zeigen des YPG-Symbols. Schon Wochen zuvor wurde allerdings Schamberger wegen gleichartiger Posts ebenfalls von dem Münchner Gericht verurteilt.
Mit Logik hat das allerdings nichts zu tun. Allenfalls mit irrationaler Hysterie. Dies zeigt auch der neueste Fall des österreichischen Journalisten Michael Bonvalot: Er wurde am Donnerstag auf Facebook gesperrt, weil er einen Spiegel online-Artikel geteilt hat, der mit einer PKK-Fahne bebildert war, in dem es um das Urteil des europäischen Gerichtshofs zur PKK geht.