Türkei: Strafgericht widersetzt sich Verfassungsgericht
Verfassungsrichter ordnen Freilassung der Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay an; das Istanbuler Strafgericht weigert sich, die Weisung umzusetzen
In welch desolatem Zustand sich der türkische Rechtsstaat befindet, demonstrierte am Donnerstag ein Istanbuler Strafgericht, als es sich einem Urteil des Verfassungsgerichts widersetzte. Die Journalisten Mehmet Altan, Sahin Alpay und Turhan Günay hatten vor dem obersten türkischen Gericht eine Beschwerde gegen ihre andauernde Untersuchungshaft eingelegt. Während Günay bereits in der Zwischenzeit entlassen worden war, wurden Altan und Alpay weiter in Haft gehalten. Die Untersuchungshaft kann in der Türkei bis zu fünf Jahre dauern.
Altan, gemeinsam mit seinem Bruder Ahmet Altan einer der prominentesten Journalisten des Landes, war im September 2016 festgenommen worden. Alpay, der neben seiner Arbeit als Journalist für zahlreiche große Medien auch Politikwissenschaft an der Istanbuler Bahcesehir-Universität lehrte, ist seit Juli 2016 in Haft. Das Verfassungsgericht urteilte am Donnerstag, die Untersuchungshaft verletze die Rechte der beiden Journalisten und sei aufzuheben.
Besonders brisant: Laut dem Urteil des Verfassungsgerichts verletzt die Untersuchungshaft die verfassungsmäßig garantierte Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit. In ersten Reaktionen wurde dieses Urteil als positives Signal aufgenommen. Reporter ohne Grenzen hatte das Urteil als Schaffung eines Präzedenzfalls gewertet und die türkische Justiz aufgefordert, die mehr als 100 weiteren noch inhaftierten Journalisten freizulassen. Doch dann schaltete sich das Istanbuler Strafgericht ein, an das die Verfassungsrichter die Anordnung zur Freilassung von Altan und Alpay verwiesen hatte - und weigerte sich, das Urteil umzusetzen.
Der stellvertretende Premier Bekir Bozdag wird von Hürriyet mit den Worten zitiert, das Verfassungsgericht habe "seine Grenzen überschritten". Es erinnere ihn an das Urteil zu Can Dündar. Der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur war 2016 ebenfalls vom Verfassungsgericht freigesprochen worden; er lebt inzwischen im Exil in Deutschland. Ein erneutes klares Signal, dass die AKP richterliche Urteile nur dann akzeptiert, wenn sie in ihrem Sinne sind. Auch Erdogan hatte Gerichten mehrfach gedroht. Nach dem Putschversuch vom Sommer 2016 wurden Tausende Richter und Staatsanwälte verhaftet und durch AKP-Anhänger ersetzt.
Das trübt auch die Hoffnung auf eine baldige Freilassung des deutschen Journalisten Deniz Yücel, der sich seit Februar 2017 in Untersuchungshaft im Istanbuler Gefängnis Silivri befindet. Auch er hatte Beschwerde vor dem Verfassungsgericht eingelegt. Ein Urteil steht noch aus. Allerdings wird erwartet, dass auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EUGH) in Kürze Yücels Freilassung fordern wird. EUGH-Urteile sind für die Türkei bindend.