Türkei: Wenn alle zu Putschisten erklärt werden

Esra Mungan (Links), Cetin Gürer (Rechts). Bild: Michael Klarmann

Der Aachener Friedenspreis ehrt Akademiker, die sich in der Türkei für Frieden engagieren. Seit dem Putschversuch wurden die Repressionen gegen sie verstärkt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Esra Mungan vergleicht die aktuelle Lage in der Türkei seit dem Putschversuch mit den Anfängen des Nationalsozialismus in Deutschland. Die türkische Wissenschaftlerin sagt am Morgen bei einer Pressekonferenz in Aachen, viele Bürger "wirkten" mit bei den Repressionen gegen jede Art von Opposition. Und "kleine Leute im System" nutzen die aktuelle Lage aus, um ihre eigenen Positionen zu festigen, andere zu unterdrücken, sie aus Ämtern oder den Beruf zu drängen. Am 27. September sollen die 48-Jährige und einige ihrer Mitstreiter erneut in der Türkei vor Gericht erscheinen.

Die Wissenschaftlerin aus der Türkei ist gemeinsam mit Cetin Gürer (38), der derzeit in Norddeutschland lebt und dem an der Bremer Uni "wissenschaftliches Asyl" gewährt wird, nach Aachen gekommen, um den Aachener Friedenspreis entgegen zu nehmen. Begleitet werden sie von weiteren türkischen Akademikern. Es sind Vertreter des Komitees der "Akademiker für den Frieden" (Barış İçin Akademisyenler). Die beiden werden stellvertretenden auf dem Festakt am Abend für ihr Netzwerk die Dankesreden halten.

Der Aachener Friedenspreis zeichnet in diesem Jahr dieses türkische Komitee aus Bande von Friedenswilligen gewürdigt). Die Akademiker sehen sich schon seit Januar Angriffen durch die türkische Justiz und Präsident Recep Tayyip Erdogan ausgesetzt. Denn zu Jahresbeginn veröffentlichten fast 1.130 Akademiker verschiedener Universitäten als Erstunterzeichner einen an die Regierung gerichteten Friedensappell. Sie forderten darin ein Ende des Militäreinsatzes in den kurdisch geprägten Gebieten.

Seitdem werden sie von Nationalisten bedroht, in den Medien verleumdet und sehen sich juristischen Schritten ausgesetzt. Im April begann in der Türkei der erste Prozess gegen vier Unterzeichner, darunter auch die zeitweise inhaftierte Mungan.

Dieses erste Verfahren wurde sozusagen eingestellt, der neue Prozess Ende September soll unter neuen Anklagepunkten firmieren. Die Wissenschaftlerin sagt, Angst habe sie keine vor dem Verfahren, obschon sich seit dem gescheiterten Militärputsch die Repressionen gegen alle Oppositionellen weiter verschärft hätten. Ihr Netzwerk begreife den Prozess jedoch auch als Möglichkeit, die Öffentlichkeit über ihr Wirken und den Friedensappell aufzuklären. "Wir sind nicht eingeschüchtert und werden weiter sagen, was wir meinen und wollen", sagt sie. Man kämpfe für Demokratie, Frieden, Gleichheit und Vielseitigkeit. Freilich stehe es um diese gesellschaftlichen Güter derzeit schlecht in ihrem Land und der dort herrschenden "Kriegsatmosphäre" seit dem gescheiterten Militärputsch.

Gürer sagt, man habe sich seit 2012 schon mit Appellen auf dem "einfachen Weg der Meinungsäußerung" gegen Krieg und Ungerechtigkeit gewehrt. Das Resultat: Weitere rund tausend Wissenschaftler, teils aus anderen Ländern, schlossen sich binnen kurzer Zeit dem aktuellen Friedensappell im Januar an. In der Türkei indes verloren seitdem rund 50 ihren Job an den Unis, sie stehen auf "Schwarzen Listen", können keine wissenschaftlichen Stellen mehr finden. Rund 500 Disziplinarverfahren sollen noch laufen, fast 100 Wissenschaftler müssen wohl noch mit einer Anklage rechnen, gegen viele Akademiker bestehen Ausreiseverbote.

Gürer hatte das Land noch vor dem Putsch verlassen und muss nun aus der Ferne mit ansehen, was in seiner Heimat geschieht. Er sagt, die "Unterdrückung von Wissenschaftlern" finde auf eine "vielfältige" Art und Weise statt.

"Hexenjagd" ist das unschöne Wort, das mehrfach auf der Pressekonferenz in Aachen fällt. "Wenn man von Frieden spricht in der Türkei, heißt das, man ist Verräter", sagt Mungan. Es sei eine "dunkle Atmosphäre", Angst breite sich aus unter den Menschen. Der Putsch durch reaktionäre Teile des Militärs und Gülen-Anhänger habe all die Bemühungen demokratischer Gruppen, der Gewerkschaften oder der Frauenrechtsbewegung erheblich zurückgeworfen.

Erdogan und dessen Machtapparat nutzten das, um alle Oppositionellen in die Nähe der reaktionären, radikalen, religiös-sektenhaften und kurdenfeindlichen Gülen-Bewegung zu rücken. Auch die Repressionen gegen das Netzwerk der Akademiker seien verstärkt worden. Selbst Menschen, die sich nicht politisch engagierten, müssten plötzlich mit Repressionen rechnen.

Vorgehen gegen Oppositionelle erinnert an die Anfänge des Nationalsozialismus in Deutschland

Kollegen, sagt Gürer, könnten etwa unterdessen ohne weitere Begründung entlassen werden an Universitäten, etwa wenn sie schlicht der Gülen-Bewegung zugerechnet würden. Ein Kollege sei sogar in Gewahrsam genommen worden, weil in seinem Arbeitszimmer Literatur von Fethullah Gülen gefunden worden sei. Linke, Demokraten, Menschen, die solidarisch mit den Kurden seien - die Gülen-Bewegung sei zutiefst antikurdisch -, würden plötzlich zu Anhängern von Gülen erklärt und verfolgt. Esra Mungan ergänzt, dass der Kollege, dem die Fethullah-Gülen-Literatur zum Verhängnis wurde, ein "atheistischer Marxist" sei, der als Historiker jedoch durchaus solche Werke wissenschaftlich lesen und betrachten müsse.

Und sie ergänzt, derlei Vorgehen gegen Oppositionelle erinnere an die Anfänge des Nationalsozialismus in Deutschland. Offenkundig handelten Menschen übereifrig im Sinne Erdogans gegen politische Gegner, andere nutzen Vorwürfe aus, um selbst davon zu profitieren. Das Wort Denunziation fällt zwar nicht auf der Pressekonferenz, im Raum schwebt es dennoch manchmal als Sinnbild dessen, was in der Türkei auch geschieht derzeit.

Der Aachener Friedenspreis wird heute Abend anlässlich des Antikriegstages, dem 1. September, feierlich verliehen. Nationaler Preisträger ist die Bürgerinitiative "Offene Heide". Sie wehrt sich gegen die Nutzung eines früheren Truppenübungsplatzes der sowjetischen Armee nahe Magdeburg durch die Bundeswehr.