Türkei: Wie nahe stehen sich Staat und Mafia?

Die Parole "Das Vaterland zuerst" ("Önce Vatan") stimmt für den bislang Erdoğan-treuen Nationalisten und Mafiaboss Sedat Peker nur noch bedingt: Er rechnet mit dem Apparat ab. Grafik: David Benbennick/ CC0 1.0

Da sich der Pate Sedat Peker auch immer wieder selbst belastet, dürften seine Enthüllungen über kriminelle Verstrickungen der türkischen Regierungsparteien weitgehend glaubwürdig sein (Teil 1)

Seit Wochen bestimmen die Enthüllungen des Mafia-Paten Sedat Peker über die Verstrickungen des AKP-Regimes mit der Mafia die türkische Öffentlichkeit. Über Videobotschaften veröffentlicht er seither pikante Interna über die engen Verbindungen zwischen der türkischen Regierung und dem organisierten Verbrechen. Bei der Bevölkerung kommen die Videos gut an. Da Peker sich mit seinen Enthüllungen immer wieder selbst belastet, gilt der Mafiaboss als weitgehend glaubwürdig. Obwohl die Youtube-Botschaften bislang mehr als 57 Millionen Mal angeklickt wurden, schweigen die meisten regierungstreuen Medien. Als Musab Turan, Journalist der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, auf einer Pressekonferenz doch einmal unangenehme Fragen stellte, wurde er sofort entlassen und als Staatsfeind diffamiert, wie der Spiegel am 22. Mai berichtete.

Zur Person Sedat Peker

Peker ist ein besonderer Krimineller. Vorbestraft wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, stand er wegen Mordes, Mordversuchs, Entführung und anderen Vorwürfen mehrmals vor Gericht. 2007 wurde er wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Urkundenfälschung und Freiheitsberaubung in zwei Fällen zu rund 14 Jahren Haftstrafe verurteilt. Doch schon nach sieben Jahren Gefängnis wurde er entlassen.

Peker ist ein nationalistischer Mafiaboss und galt bisher als Anhänger des türkischen Präsidentn Recep Tayyip Erdoğan. Gerüchten zufolge hielt Erdogan seine schützende Hand über Pekers Mafia-Netzwerke, weil dieser mit groß angelegten Kampagnen in den Social Media für die AKP eintrat. Der Tagesspiegel berichtete bereits von Drohungen Pekers, Gegner der Regierung Erdoğans am nächsten Baum aufzuhängen und in ihrem Blut zu baden.

Was im Falle von Mitgliedern der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP) sofort zu Verhaftungen wegen Terrorismusverdachts führen würde, fiel bei Peker unter "Meinungsfreiheit". Im internen Machtkampf zwischen verschiedenen Fraktionen der AKP und ihres Juniorpartners, der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), geriet Peker nun offenbar zwischen die Mühlen und wurde von Erdoğan fallen gelassen. Im April diesen Jahres wurden 121 Wohnungen aus Pekers Umfeld durchsucht und 54 Personen festgenommen.

Bei der Durchsuchung seiner Villa im Istanbuler Stadtteil Beykoz soll seine Ehefrau und Anwältin Özge Yilmaz misshandelt und eine seiner Töchter mit der Waffe bedroht worden sein. Nach seinem Ehrenkodex ist dies unverzeihlich und in mehreren Medien wird dies als Anlass für seine Enthüllungen genannt. Um einer Verhaftung zu entgehen, floh Peker im Januar 2020 ins Ausland und lebt anscheinend mittlerweile in Dubai.

Seinen Platz übernahm ein rivalisierender Mafiaboss: Alaattin Cakici, der ebenfalls ein Mann des "tiefen Staates" ist, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. Er ist Anhänger der ultrantionalistischen Grauen Wölfe und Ex-Agent des türkischen Geheimdiensts MIT. Cakici gab in der Verangenheit unter anderem die Ermordung der eigenen Ex-Ehefrau in Auftrag und wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt.

Im Sommer 2020 kam Cakici frei, weil die Regierung die Zellen tausender Schwerkrimineller öffnete - angeblich, um in den Gefängnissen die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, allerdings profitierten davon nicht die zahlreichen inhaftierten Oppositionellen. Hinter Cakicis Freilassung stand Devlet Bahçeli, Chef der rechtsextremen MHP. Er nennt Cakici seinen Freund und besuchte ihn mehrfach im Gefängnis.

Innenminister Soylu schützte den Mafiapaten

Eine zentrale Rolle bei den Enthüllungen Pekers spielt der türkische Innenminister Süleyman Soylu (AKP). Er gehört dem rechten Flügel der AKP an, der eine ideologische Nähe zur MHP hat. Soylu hatte lange seine schützende Hand über Peker gehalten, indem er ihn beispielsweise vor drohenden Razzien warnte. In einer seiner Videobotschaften berichtet Peker, dass er auf Initiative von Soylu Polizeischutz erhalten habe. Wenn ein hochrangiger Mafioso auf Betreiben des Innenministers Polizeischutz erhält, legt dies die Vermutung nahe, dass der Mafioso im Dienste der Regierung agiert hat.

Der Oppositionspolitiker Özgür Özel (CHP) hält Soylu für eine Schlüsselfigur des Beziehungsgeflechts zwischen AKP, MHP und Mafia. Peker berichtet weiter, er habe eine Twitter-Kampagne organisiert, um Soylu zu unterstützen, nachdem der Innenminister wegen einer schlecht organisierten Corona-Ausgangssperre seinen Rücktritt erklärt hatte. In den sozialen Netzwerken wurden damals innerhalb kurzer Zeit mehr als eine Million Nachrichten verschickt, die Soylu zum Bleiben aufforderten. Erdoğan hatte ihn daraufhin im Amt belassen.

Innenminister Soylu spricht von übler Verleumdung, konnte aber die Vorwürfe nicht entkräften. Nach Informationen der Neuen Züricher Zeitung dementierte auch der regierungsnahe Journalist Hadi Özisik, der laut Peker als Mittelsmann zwischen ihm und Soylu fungierte, im Fernsehen alle Vorwürfe gegen Soylu. Nur wenige Minuten darauf veröffentlichte der Mafiaboss die Aufzeichnung eines Videogesprächs, das er dazu mit Özisik geführt hatte.

Nicht nur Soylu scheint rege Kontakte mit Peker unterhalten zu haben. Peker berichtet auch über Aufträge aus Erdogans AKP-Kreisen: Beispielsweise sollte er einen Abgeordneten verprügeln lassen. Für den Auftrag soll er 2015 vom AKP-Abgeordneten Metin Külünk 10.000 Dollar erhalten haben, um einen Mob auf das Verlagshaus der Zeitung Hürriyet loszulassen. Deren Verleger musste seine Zeitung kurz darauf an einen Erdogan-treuen Unternehmer verkaufen. Peker berichtet auch von einem Machtkampf zwischen Innenminister Soylu und Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak um die Nachfolge Erdoğans. Zu diesem Zweck ließ Soylu anscheinend Erdoğans Sprecher und Büroleiter abhören.

Ex-Innenminister Mehmet Agar und die Mafia

Über den ehemaligen Justiz- und Innenminister Mehmet Agar (AKP), dem schon lange Verbindungen zur Mafia nachgesagt werden, berichtet Peker, dass der türkische Staat in dessen Amtszeit in den 1990er-Jahren rechtsgerichtete Mafiosi als Handlanger einsetzte, um kurdische Politiker, Geschäftsleute und unbequeme Personen wie zum Beispiel Behçet Cantürk und Savaş Buldan zu töten. Buldan war der Ehemann der heutigen HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan. Am 3. Juni 1994 wurde er zusammen mit seinen Freunden Adnan Yıldırım und Hacı Karay beim Verlassen eines Hotels in Istanbul von Personen in Polizeiuniform verschleppt. Einen Tag später tauchten die Leichen der drei Männer in der 270 Kilometer entfernten Stadt Bolu auf.

"Buldan und seine Freunde waren gefoltert und anschließend durch Kopf- und Brustschüsse getötet worden. Zahlreiche Brandwunden bedeckten ihre Körper, an manchen Stellen hatte sich die Haut abgelöst", heißt es in einem Bericht der kurdischen Nachrichtenagentur ANF anlässlich der Enthüllung von Peker.

Auch der aufsehenerregende Mord am türkischen Starjournalisten Ugur Mumcu im Jahr 1993 und die späteren Morde an dem türkisch-zypriotischen Journalisten Kutlu Adali und an Theofilos Georgiadis, dem damaligen Vorsitzenden des zypriotischen Kurdistan-Solidaritätskomitees, scheinen auf das Konto von Agar zu gehen. Beide wurden ebenfalls in den 1990er Jahren getötet. Mumcu hatte damals über die Verstrickung von Behördenvertretern in Drogen- und Waffenverkäufe recherchiert.

Adali war zypriotischer Journalist, der über den türkischen Terror in Zypern schrieb. In den 1990er Jahren seien in Zypern Zeitungsredaktionen bombardiert, Autos von Politikern und Journalisten in die Luft gejagt und Parteigebäude beschossen worden, erinnert ANF. Kurz nach der Veröffentlichung des Videos von Peker hob das Berufungsgericht in Ankara die Freisprüche von 19 Angeklagten im Jahr 2019 auf, darunter den von Mehmet Agar, und ordnete die Wiederaufnahme des sogenannten Jitem-Prozesses an. Der Name des Militärgeheimdienstes Jitem ist in der Türkei zum Synonym für den "tiefen Staat" geworden, also für die Zusammenarbeit von Staat, Geheimdienst und organisiertem Verbrechen. 1996 musste Agar wegen des "Susurluk-Skandals" als Innenminister zurücktreten.

Der Susurluk-Skandal

Damals wurden diese Verstrickungen durch einen schweren Verkehrsunfall nahe der Stadt Susurluk im Westen der Türkei offenkundig. Bei dem Unfall kamen der stellvertretende Istanbuler Polizeipräsident Hüseyin Kocadag sowie Abdullah Çatli, Führungsmitglied der Grauen Wölfe und Auftragsmörder und seine Geliebte, die Schönheitskönigin Gonca Us ums Leben. Sedat Edip Bucak, Abgeordneter der damaligen Regierungspartei DYP (Partei des Rechten Weges), Großgrundbesitzer und Führer von paramilitärischen "Dorfschutz-Einheiten", überlebte den Unfall.

Im Kofferraum des Unfallfahrzeugs fanden sich Waffen, Drogen, Dollar-Bündel und gefälschte Pässe, ausgestellt von Mehmet Agar. Die Staatsanwälte des Staatssicherheitsgerichtes Istanbul klagten Männer, die Spitzenpositionen im Staatsapparat bekleideten, wegen "Gründung einer kriminellen Organisation" an. Unter den Angeklagten waren Persönlichkeiten wie Ibrahim Sahin, damals Chef der für "Terrorismusbekämpfung" zuständigen Sondereinheiten der Polizei sowie der damals zurückgetretene Innenminister Mehmet Agar und der Abgeordnete Sedat Bucak.

Letztere gehörten der Partei des Rechten Weges an und waren der Parteiführerin und Ministerpräsidentin Tansu Çiller treu ergeben. Agar und sein Gefolgsmann Sahin waren immer wieder beschuldigt worden, Folterteams zu führen und Morde an politischen Oppositionellen anzuordnen, ohne dass es deswegen zu einer Anklageerhebung kam. Agar wurde schließlich wegen seiner Mafia-Verbindungen zu einer Haftstrafe von 5 Jahren verurteilt, jedoch nach nur einem Jahr Haft wieder entlassen.

Tod einer Reporterin nach Anzeige wegen Vergewaltigung

Über Mehmet Agars Sohn, Tolga Agar, der mittlerweile AKP-Abgeordneter ist, berichtet Peker in einem Video im Zusammenhang mit dem mysteriösen Tod der kirgisischen Reporterin Yeldana Kaharman (21) am 28. März 2019. Die Journalistin hatte am Vortag ihres Todes ein Interview mit ihm in seiner Funktion als AKP-Abgeordneter gemacht. Danach zeigte sie ihn wegen Vergewaltigung an. Kurz darauf wurde sie tot aufgefunden, die Staatsanwaltschaft stellte jedoch die Ermittlungen ein.

Im Februar 2020 wurde eine Nachrichtensperre zu dem Fall verhängt. Als Begründung wurde die "Verletzung von Persönlichkeitsrechten" genannt. Tolga Agar soll auch auf einer Kokain-Party in der Istanbuler Villa eines Bauunternehmers anwesend gewesen sein. Unter den "Gästen" soll auch Sezgin Baran Korkmaz (CEO der SBK Finanz-Holding) gewesen sein, der sich derzeit wegen des Vorwurfs der Geldwäsche von 132 Millionen Dollar auf der Flucht im Kongo befindet. Familie Agar verhinderte nach Pekers Aussage Ermittlungen zu dieser Drogenparty.

Schenkt man Pekers Aussagen Glauben, schmuggelt ein Netzwerk der türkischen Mafia über die Häfen in Izmir und Mersin Drogen aus Südamerika in die Türkei. Im Juli 2020 fand man in zur Verladung bereiten Schiffscontainern in Kolumbien 4,9 Tonnen Kokain im Wert von 265 Mio. Dollar. Bestimmungsort war nach Aussagen eines kolumbianischen Ministers die Türkei und Empfänger nach Aussage Pekers der tiefe Staat unter dem ehemaligen Justiz- und Innenminister Mehmet Agar. Abgewickelt wurde das alles über ein Chemieunternehmen in Izmir, welches Agar und anderen Personen aus AKP-Kreisen gehöre.

In der Türkei wurde dazu nicht ermittelt. Der ehemalige Justizminister Cemil Cicek sagte, es wäre eine Katastrophe, wenn Pekers Behauptungen auch nur zu einem Tausendstel wahr seien. Brisant ist auch die Information, dass Agar Besitzer der berühmten Yalikavak-Marina im Ägäis-Badeort Bodrum ist, an der Superyachten aus aller Welt anlegen. Laut Peker soll sie auch eine Anlandestelle für Drogen aus Lateinamerika sein. Agar wies die Vorwürfe zurück, er sei nicht der Besitzer der Marina von Bodrum, er sitze nur im Verwaltungsvorstand.

Nun ja, der Susurluk-Skandal mit Drogen im Kofferraum, sein Sohn auf einer Kokain-Party in Istanbul, da macht der High Society-Hafen bei Bodrum durchaus Sinn - wenn man die klientelistischen Netzwerke der Superreichen in der Türkei betrachtet. Ein kurioser Fall beschäftigte im März die türkischen Medien: Kürşat Ayvatoğlu ein reicher junger AKP-Anhänger, der auf seinen Social-Media-Accounts gerne zusammen mit Erdogan und Soylu posierte. Nun ließ sich dieser AKP-Jungspund in seinem edlem SUV beim Koksen filmen, was prompt ins Netz gestellt wurde. Als er wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Rauschmittelgesetz verhaftet wurde, gab er an, Puderzucker geschnupft zu haben. Erst als diese Ausrede nicht mehr haltbar war, musste er seinen Kokainkonsum zugeben.

Ein weiter Fall ist Veysel Filiz, der 2014 von Erdoğan zum Presseverantwortlichen der türkischen Botschaft in Brüssel ernannt wurde. 2017 wurde ein Ermittlungsverfahren in Belgien gegen Filiz eingeleitet, weil er über Fake-Accounts in Europa lebende Oppositionelle bedrohte. Daraufhin musste er Belgien verlassen. Filiz wurde am 9. Dezember 2020 zufällig an der bulgarischen Grenze mit 100 Kilogramm Heroin im Wert von fünf Millionen Dollar erwischt. Die türkischen Behörden verhängten sofort eine Geheimhaltungsverfügung.

Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung ist auch Serhat Albayrak, der Bruder von Erdoğans Schwiegersohn und Ex-Finanzminister Berat Albayrak, in die Geschäfte der Familie Agar verwickelt. Serhat Albayrak hat Einfluss auf einen der größten Medienkonzerne der Türkei, die Turkuaz Media Group. Vor einigen Monaten soll es einen Streit zwischen Peker und dem damaligen Finanzminister Berat Albayrak gegeben haben, berichtet das Deutsch-türkische Journal.

Worum es ging, ist nicht bekannt, aber merkwürdigerweise trat Albayrak kurze Zeit später als Finanzminister zurück und ist seither verschwunden. Mit ihm verschwanden 128 Milliarden Dollar aus den staatlichen Devisenreserven. Seitdem stellt die Opposition in der Türkei die Frage, wo diese 128 Milliarden geblieben sind. Peker scheint davon gewusst zu haben. Aber es scheint ein Agreement zwischen Mafia und Politik zu geben, Stillschweigen darüber zu bewahren. Als Gegenleistung für sein Stillschweigen erhoffte sich Peker die Rückkehr zu seiner Familie in die Türkei. Man darf gespannt sein, ob dazu noch Details ans Licht kommen.

Der "tiefe Staat" ist immer noch existent

Peker nennt noch einen weiteren wichtigen Akteur im internationalen Drogenschmuggel: Erkam Yıldırım, Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım. Dieser soll über Venezuela und Panama Drogen im großen Stil in die Türkei geschmuggelt haben. Belege hierfür lieferte Peker vorerst nicht, wie er überhaupt in seinen Youtube-Videos durch Worte, Bilder an den Wänden seines Home-Studios und Gegenstände auf dem Tisch immer wieder Anspielungen macht, die bisher nur Eingeweihte verstehen, von denen aber das türkische Publikum hofft, dass sie in weiteren Sendungen aufgeklärt werden.

Allerdings ist schon jetzt mehr als deutlich, dass der tiefe Staat nach wie vor existiert und dass der einst als Saubermann aufgetretene Chef der AKP heute selbst Teil dieses Netzwerkes ist.

Die Existenz des "tiefen Staates" wurde in den 1990er Jahren bekannt. Dieses Netzwerk organisierte Morde an Kurden und anderen Oppositionellen und verdiente am Drogenhandel. Besonders involviert war die rechtsextreme Partei MHP, die heute Koalitionspartner der AKP ist. Ein offenes Geheimnis ist, dass der türkische Staat im Kampf gegen linke, kurdische und armenische Gruppierungen auch auf nationalistisch gesinnte Mafiabanden zurückgriff. Als Gegenleistung wurde bei deren kriminellen Geschäften so manches Auge zugedrückt.

Der Journalist Celal Başlangıç gilt als Experte für den Tiefen Staat, Spezialkriegsführung und organisierte Kriminalität. Unlängst berichtete er in einem Interview mit der Nachrichtenagentur ANF über einen Mafiakrieg innerhalb des Regimes. Als deutlichsten Beweis führt er den Führungswechsel in der Mafia in der Türkei an: die Freilassung des rechtsextremen Mafia-Paten Alaattin Çakıcı, - auf Betreiben der MHP. Zwischen der AKP und MHP scheint es zudem eine Arbeitsteilung bei den Mafia-Aktivitäten zu geben. Gewinne aus der illegalen Umwandlung von Gelände in Bauland wurden zum Beispiel über die MHP abgewickelt, während Ausschreibungen oder Gewinne aus obskuren Geschäften, die gesetzlich noch irgendwie zu legitimieren waren, bei der AKP verblieben.

Den Susurluk-Skandal führt Başlangıç auf die kurdische Frage zurück. Er ist der Meinung, dass der türkische Staat damals auf die Mafia setzte, um gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK und andere Organisationen, die sich für die Anerkennung der Kurden als ethnische Minderheit einsetzten, vorzugehen. Heute werde die Mafia in dieser Frage nicht mehr gebraucht. Vielmehr sei sie nunmehr direkt im Staatsapparat verankert und auf anderen Feldern aktiv. Die Mafia ist Teil der Staatsstruktur, meint Başlangıç. Was nichts anderes heißt, als dass der tiefe Staat, die Politik der Türkei mitbestimmt.

Die Pelikan-Gruppe

Die geheime "Pelikan-Gruppe" wurde erstmals im Mai 2016 bekannt. Sie startete eine Website mit dem Titel "Pelikan Files". Dahinter stand nach Informationen des Deutsch-Türkischen Journals eine Gruppe von Erdogan-Anhängern wie zum Beispiel Hilal Kaplan, Melih Altınok, Süheyb Öğüt, Cemil Barlas, die im Namen von Turkuaz Media auftraten, um Serhat Albayrak und seine Machenschaften reinzuwaschen. Finanziert wird die Pelikan-Gruppe durch Berat Albayrak und die private Krankenhauskette Medipol, deren Eigentümer der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca ist.

Der Pelikan-Gruppe wird nachgesagt, die türkische Justiz unterwandert zu haben und einen "Staat im Staate" zu bilden. "Neben der politischen Einflussnahme weiß man wenig über die Finanzströme der Gruppe. Falls dieser Aspekt aufgedeckt werden wird, ist es wahrscheinlich, dass eine große kriminelle Vereinigung zum Vorschein kommt", glaubt der Journalist Alican Uludag von der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet.

Peker bringt die medienwirksamen Hausdurchsuchungen bei seiner Familie und seinem Umfeld mit einer Kooperation von Mehmet Agar und der Pelikan-Gruppe von Serhat und Berat Albayrak in Verbindung.

Reaktionen aus dem Hause Erdoğan

Wochenlang schwieg Erdoğan zu den Enthüllungen. Nun äußerte er sich letzten Mittwoch und nahm Innenminister Soylu in Schutz. Dies ist merkwürdig, wäre es doch eine gute Gelegenheit gewesen, den zu mächtig gewordenen Innenminister los zu werden, der sich für die Ära nach Erdogan in Position bringt. Aber wahrscheinlich würde er den Bruch mit der MHP riskieren, die sich letzten Dienstag hinter Soylu stellte. Angesichts schwindender Mehrheiten ist die AKP auf die MHP angewiesen.

Denis Yücel schreibt in der Welt, Erdogans Strategie zur Lösung der Mafia-Affäre könnte eine weitere Polarisierung der Innenpolitik sein. Dabei sei sein neues Ziel Meral Aksener, Chefin der säkular-nationalistischen "Guten Partei". Diese sei kürzlich in der Schwarzmeerregion von AKP-Anhängern bedrängt worden. Erdogans Botschaft an Aksener: "Das war erst der Anfang. Wart nur ab, das sind noch die guten Tage." Der einstige AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu, der einst in Deutschland in Talkshows für Erdogan Wahlkampf machte, erklärte dazu: "Nach dieser Erklärung des Staatspräsidenten kann in der Türkei kein Politiker, der ihm widerspricht, sich noch seines Lebens sicher fühlen."

Ob die Strategie der Polarisierung aufgeht, ist schwer vorauszusagen. Jedenfalls hat Peker schon mal mögliche Themen für weitere Videos angedeutet, die Erdogan direkt in die Bredouille bringen könnten: die Themen Syrien und Iran. In Syrien organisierte die Türkei bekanntermaßen Waffenlieferungen und logistische Unterstützung für die Freie Syrische Armee, für den Al-Qaida-Ableger Al Nusra-Front und für weitere dschihadistische Gruppen bis hin zum Islamischen Staat, berichtet die ‚Welt‘. Peker könnte dazu weitere Insider-Informationen liefern, denn er selbst ließ vier Lastwagenladungen zur Unterstützung an turkmenische Kämpfer in Nordsyrien liefern, wofür er von der AKP-Presse gefeiert wurde.

Beim Thema Iran geht es um Geschäfte unter Umgehung des US-Embargos. In den USA wird ein unter dem ehemaligen Präsidenten Trump verschlepptes Verfahren gegen eine türkische Staatsbank nun fortgesetzt. Kronzeuge ist Reza Zarrab, der einst von AKP-nahen Medien als "Geschäftsmann des Jahres" gefeiert wurde.

Und was sagt die Bundesregierung?

Hier herrscht Schweigen zu der Affäre. Beim ehemaligen Außenminister Sigmar Gabriel und dem jetzigen Außenminister Heiko Maas (beide SPD) ist das nicht verwunderlich. Schließlich spielte Gabriel bei einem Treffen den Teejungen für den türkischen Außenminister Cavusoglu und erntete international Spott für diese Bücklingsgebärde. Maas und Cavusoglu sind mittlerweile Duzfreunde. Sinngemäß wird uns immer wieder erklärt, so schlimm sei es um die Türkei auch nicht in Sachen Demokratie bestellt. Die Enthüllungen des Mafia-Paten Peker sprechen eine andere Sprache.

Demnach sitzt die Mafia mit in der Regierung. Die Bundesregierung, allen voran Außenminister Maas müssten eigentlich wissen, dass sie auch beim "Flüchtlingsdeal" mit Erdogan indirekt mit der Mafia verhandeln und Geschäfte machen. Schwer zu glauben, dass ihnen das nicht bewusst ist. Nun liefert der Mafia-Pate Peker der Bundesregierung, der EU und den USA die Hintergrundinformationen auf dem silbernen Tablett.

Konsequenzen in der Türkei-Politik wird dies aber wahrscheinlich nicht haben. Während Außenminister Maas dem belorussischen Präsident Lukaschenko mit einer "Sanktionsspirale" droht, weil er eine RyanAir-Maschine zur Landung gezwungen hat, um einen Oppositionellen und seine Freundin zu verhaften, schweigt Heiko Maas zu den massenhaften Verhaftungen von Mitgliedern der türkischen Oppositionspartei HDP und den völkerrechtswidrigen Besetzungen von Gebieten in Nordsyrien und Nordirak. Telepolis verfolgt mit Interesse die weiteren Enthüllungen Pekers und wird weiter berichten. Peker hat weitere Videobotschaften unter anderem auch über seine Beziehung zu Erdogan angekündigt.

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