Türkei: Zunehmende Repression nach Oppositions-Sieg?
Erdogan erhält einen Dämpfer vom Verfassungsgericht, zugleich regieren Willkür, Zensur und Machtspiele auch weiterhin in Istanbul
Nachdem die regierende AKP in einer von oben erzwungenen Neuwahl vor einer Woche Istanbul an die Opposition verloren hat, kam wenige Tage später die nächste Niederlage für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan: Das türkische Verfassungsgericht urteilte, dass die Inhaftierung des deutschen Journalisten Deniz Yücel unrechtmäßig war und sprach ihm eine Entschädigung in Höhe von 3.800 Euro zu.
Yücel war knapp ein Jahr lang im Gefängnis Silivri am Stadtrand von Istanbul inhaftiert gewesen und wurde im Februar 2018 freigelassen. Der Prozess gegen ihn wird allerdings fortgesetzt. Rein rechtlich müsste er nun eingestellt werden. Laut Verfassungsgericht ist die Anklage gegen Yücel haltlos: So sei es unzulässig, journalistische Berichterstattung, die von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, als "Terrorpropaganda" einzustufen.
Gegen Yücel war unter anderem ins Feld geführt worden, dass er über geleakte E-Mails des Präsidentenschwiegersohns Berat Albayrak berichtet und ein Interview mit einem hochrangigen PKK-Kämpfer geführt hatte. Das Urteil ist rechtlich bindend und könnte ein positives Signal für die rund 160 weiteren in der Türkei mit ähnlichen Vorwürfen inhaftierten Journalisten und Schriftsteller sein.
Doch nach wie vor kontrolliert Erdogan weite Teile der Justiz. Die Entscheidung der Verfassungsrichter kann also durchaus im Kontext der Istanbul-Neuwahl gesehen werden, als Versuch, aus dem AKP-Schema der systematischen Kriminalisierung oppositioneller Stimmen auszubrechen.
Allerdings hatte es vor zwei Jahren bereits durch das höchste Berufungsgericht ein ähnliches Urteil gegeben, das die Inhaftierung eines Gülen-Anhängers als unrechtmäßig eingestuft hatte: Es sei kein Verbrechen, zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zu gehören oder Kontakte zu anderen Gülen-Anhängern zu pflegen.
Die AKP macht Gülen für den Putschversuch vom Sommer 2016 verantwortlich, konnte diesen Vorwurf aber bis heute nicht belegen. Trotz des Urteils sind weiterhin tausende Gülenisten in Haft, Zehntausenden wurden die Pässe entzogen, mehrfach hat der türkische Geheimdienst Gülenisten in anderen Ländern entführen und in die Türkei bringen lassen.
Einfach den Handlungsspielraum einengen
Ob das aktuelle Urteil eine größere Wirkung haben wird, ist völlig unklar. Die Tatsache, dass in der vergangenen Woche der Journalist Ali Ergin Demirhan in Istanbul wegen Präsidentenbeleidigung festgenommen wurde, spricht zumindest dagegen.
Zugleich läuft in Istanbul der Prozess gegen sechzehn zivilgesellschaftliche Aktivisten für die vermeintliche Organisierung der Gezi-Proteste im Jahr 2013. Menschenrechtler bezeichnen die Anklage als haltlos. Ebenfalls am Freitag erging ein Urteil über insgesamt 14 Jahre Haft gegen mehrere kurdische Journalisten, die für die verbotene linke Tageszeitung Özgürlükcü Demokrasi gearbeitet hatten.
Beim Istanbuler Filmfestival wurde die Aufführung eines Dokumentarfilms über den IS-Anschlag in Suruc im Jahr 2015, bei dem 33 Menschen starben, verboten. Von kurdischen Milizen gefangengenommene IS-Kämpfer hatten vor wenigen Monaten ausgesagt, der türkische Geheimdienst MIT habe von den Anschlagsplänen gewusst, andere suggerierten gar, die türkischen Behörden seien involviert gewesen. Das Verbot wurde mit der Befürchtung begründet, der Film könne Terrorpropaganda enthalten.
All diese Ereignisse deuten zumindest darauf hin, dass die Wahlgewinne der Opposition in Istanbul und weiteren Großstädten zwar ein positives Signal dafür sind, dass zumindest an der Wahlurne demokratische Grundstrukturen noch nicht gänzlich verloren sind, zugleich Erdogan und die AKP aber noch längst nicht geschlagen sind. Die Stimmung in Istanbul ist zwiegespalten in diesen Tagen.
Die Freude über den Wahlsieg der CHP ist getrübt durch die Befürchtung, dass Erdogan nun erst recht weitere repressive Maßnahmen einleiten könnte, um seine angeschlagene Machtbasis wieder zu stabilisieren.
Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass der AKP-dominierte Stadtrat den neuen Bürgermeister Ekrem Imamoglu bei jeder sich bietenden Gelegenheit sabotieren wird, während die AKP einem Bericht der Tageszeitung Birgün zufolge daran arbeitet, Entscheidungsbefugnisse der Stadtverwaltungen an Ministerien in Ankara zu übertragen. Am Ende könnte es passieren, dass Bürgermeister der Opposition nur einen sehr überschaubaren Handlungsspielraum haben.