Türken in Deutschland: Weiter für Erdogan?

Archivbild (2015): Kreml/CC BY-4.0

Präsidentschaftswahl: Die Abstimmung beginnt heute. Sie könnte eine Zeitenwende einläuten. In Deutschland zeigen sich ganz spezielle Gefühlslagen.

Wie schnell sich vermeintlich stabile Verhältnisse ändern können: Es ist nicht lange her, dass man dachte, Erdogan bleibt auf Jahrzehnte unangefochten Palastchef in der Türkei. Jetzt ist er trotz geschickter geopolitischer Manöver in den letzten Jahren innenpolitisch stark angeschlagen.

Würde er am 14. Mai abgewählt, so könnte auch in der Türkei eine Zeitenwende anbrechen. Jedenfalls werden Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu gute Chancen eingeräumt, aus der Wahl als knapper Sieger gegen Erdogan hervorzugehen.

Voraussagen, die sich nicht weit aus dem Fenster lehnen, erwarten mindestens einen knappen Ausgang.

Ab heute können etwa 1,5 Millionen türkischer Staatsbürger, die in Deutschland leben, hierzulande ihre Stimme in 16 Wahllokalen (Tagesschau) für die Parlaments- und Präsidentenwahlen in der Türkei abgeben – bis zum 9. Mai. Dann werden ihre Stimmzettel aus Deutschland per Flugzeug in die Türkei gebracht und dort ausgezählt.

Diese Auszählung könnte zu einem eigenen Thema werden. Es heißt, dass die Stimmabgabe der Türken in Deutschland von Gewicht ist. Beim Referendum, 2017 tauchte öfter die Phrase vom "Zünglein an der Waage" auf, wenn es um die Stimmabgabe der Türken in Deutschland ging.

Da konnte Erdogan noch fest davon ausgehen, dass er die Mehrheit der abstimmungsberechtigten Türken auf seiner Seite hat. 2017 stimmten etwa 63 Prozent der Türken in Deutschland für Erdogans Vorhaben, das parlamentarische System in ein Präsidialsystem umzuwandeln. In der Türkei waren es nur knapp 51 Prozent.

Bei den Wahlen 2018 war die Wahlbeteiligung der Türken in Deutschland niedrig. Nur etwa die Hälfte stimmte ab, mit rund 65 Prozent für Erdogan. Insgesamt stimmten 53 Prozent für den Präsidenten.

Von einem solch klaren Trend unter den Türken in Deutschland ist in der aktuellen Vorabberichterstattung nicht mehr die Rede. Nicht nur das ZDF nimmt eine gespaltene Stimmung unter den deutsch-türkischen Wählern wahr.

"Aus Trotz"

Zwar wird noch immer erklärt, dass sich unter den Türken hierzulande viele Konservative befinden, die ihre Gründe haben, Erdogan zu wählen, selbst unter Türken, die in der dritten Generation in Deutschland leben, und ihn "aus Trotz" wählen, wie der Integrationsforscher Yunus Ulusoy der Deutschen Welle erklärte.

Als ein Grund dafür wird vom DW-Bericht angeführt, dass sich die deutsche Politik auch nach 60 Jahren immer noch schwer damit tue,

"sich zu diesen Menschen zu bekennen und ihnen zu sagen: 'Ihr gehört zu diesem Land, unabhängig davon, ob ihr BioNTech-Gründer seid oder womöglich als Jugendliche bei Silvester irgendwelche Krawalle begonnen habt. Selbst wenn ihr Fehltritte gemacht habt, gehört ihr zu uns.' Genau das sagt aber Erdogan: 'Egal wo ihr seid, egal welche Staatsangehörigkeit ihr habt, ihr gehört zu uns.'".

Dieses Mal durfte aber nach einer neuen Bestimmung kein türkischer Politiker in den letzten drei Monaten in Deutschland mehr auftreten und Wahlkampf mit dieser Gefühlslage machen. Die bleibt präsent. Auch die Sozialwissenschaftlerin und Linken-Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut weist auf den Faktor Ausgrenzung hin, aus dem Erdogan politisches Kapital schlagen kann:

Die zunehmende wirtschaftliche Unzufriedenheit, die die Menschen in der Türkei direkt erleben, geht an den Menschen hier vorbei. Zudem führen Erfahrungen mit Diskriminierung, Rassismus und fehlende politische Partizipationsmöglichkeiten bei Deutsch-Türken zu einem Gefühl der Ausgrenzung in Deutschland. Ihnen wird das Gefühl gegeben, nicht dazuzugehören.

Gökay Akbulut

Ob Erdogan noch eine starke Wählerbasis in Deutschland hat, wie in dem DW-Bericht angenommen wird, wird zumindest relativiert. So rechnet etwa Caner Aver vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen, den mehrere Medien befragten, damit, dass der Zuspruch für Erdogan unter den Deutschtürken abgenommen hat.

Veränderte Wählerprofile

Grund: Die Wählerprofile der Deutschtürken hätten sich durch Zuwanderung verändert: "Von ländlich geprägten, bildungsfernen Gruppen hin zu immer mehr gut ausgebildeten Fachkräften aus der städtischen Mittelschicht."

Die seien weniger von Erdogan überzeugt, so die unterliegende Annahme. Würden diesmal alle türkischen Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben, so würde das einen Anteil von 2,3 Prozent insgesamt ausmachen.

In der Hauptsache also entscheiden die Wählerinnen und Wähler die "Schicksalswahl" in der Türkei.

Für die deutsche Politik und Gesellschaft stellen sich, was die Türken hierzulande betrifft, wie gesehen, ebenfalls sehr wichtige Fragen.