Türkische Akademiker: Entlassung, Hungerstreik, Haft, Folter
Die Festnahme zweier Akademiker im Hungerstreik wirft ein Schlaglicht auf die katastrophale Menschenrechtslage
75 Tage lang waren die Universitätsdozentin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakca im Hungerstreik. Sie sind nur zwei der Zehntausenden von Akademikern, die im Rahmen von Erdogans Krieg gegen Oppositionelle ihre Jobs verloren haben. Davon abgesehen, dass all diese Personen nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten können, haben sie auch sonst kaum noch Chancen, wieder Arbeit zu finden. Denn da ihre Namen öffentlich verkündet werden, ist bei den meisten Arbeitgebern die Angst groß, selbst auf der Abschussliste zu landen, wenn sie jemanden beschäftigen, der beim Staat in Ungnade gefallen ist.
Viele Betroffene haben versucht, sich selbständig zu machen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Diejenigen, die in den Straßen Istanbuls und Ankaras Streetfood verkaufen, sind heute nicht selten Wissenschaftler, Dozenten, Lehrer. Ihre Existenzen wurden zerstört.
Hunderte sind bereits in Ausland geflüchtet - wenn sie denn die Möglichkeit dazu hatten. Denn in der Regel geht mit einer Entlassung auch die Einziehung des Reisepasses einher, verknüpft mit dem Verbot, das Land zu verlassen. Universitäten und Schulen werden Schritt für Schritt mit Günstlingen des Regimes ausstaffiert, die Lehrpläne umgeschrieben. Nachhilfeinstitute, die zu einem großen Teil von der Gülen-Bewegung betrieben wurden, sind geschlossen, enteignet oder staatlichen Schulen angegliedert worden.
Schulen und Universitäten sollen im Staate Erdogan keine unabhängigen Ausbildungsstätten mehr sein, die die wissenschaftliche und wirtschaftliche Zukunft des Landes prägen, sondern Kaderschmieden für die "Neue Türkei". So nennt Erdogan sein Projekt. Die "Alte Türkei" - das war die kemalistisch geprägte Republik, die er überwinden will. Dass das auf Dauer nur funktioniert, indem man Schulen und Unis gleichschaltet, ist der AKP offensichtlich bewusst.
Nuriye Gülmen und Semih Özakca hatten mit ihrem vor dem Menschenrechtsdenkmal in Ankara öffentlich vollzogenen Hungerstreik nur ein Ziel: Sie wollten auf ihre und die Lage ihrer Kolleginnen und Kollegen aufmerksam machen und forderten ihre Jobs zurück. Anfangs wurden sie immer mal wieder tageweise festgenommen, doch sie ließen sich nicht einschüchtern. Menschen aus der ganzen Türkei besuchten sie, zuletzt bildete sich ein kleines Protestcamp, das sich mit ihnen solidarisch erklärte. Prominente ließen sich demonstrativ mit ihnen ablichten und riskierten damit wiederum die eigene Freiheit.
In den vergangenen zwei Wochen wurde das Protestcamp fast in jeder Nacht von der Polizei angegriffen, Demonstranten verhaftet. Doch alle Versuche, den Hungerstreik zu beenden, schlugen fehl. Am vergangenen Sonntag dann wurden die beiden sichtlich geschwächten Akademiker abgeführt, nachdem Spezialeinheiten ihre Wohnungen gestürmt hatten.
Ihre Anwälte mutmaßten, der Staat habe Angst davor, dass sich der Protest ausweiten könnte. Der Gezi-Aufstand ist für die AKP noch immer eine unangenehme Erinnerung, sie will um jeden Preis verhindern, dass es erneut zu landesweiten Massendemonstrationen kommt und setzt daher auf Willkür und Repression. Am Tag ihrer Festnahme verkündete Gülmen via Twitter, sie werde sich nicht ergeben. Inzwischen wurden auch Özakcas Mutter und seine Ehefrau festgenommen, als sie gegen die Festnahmen der beiden protestierten.
Heute wurden Gülmen und Özakca in Ankara dem Haftrichter vorgeführt. Laut BirGün wurde Özakca einzig vorgeworfen, dass er vor der Menschenrechtsdenkmal Gitarre gespielt und gesungen habe und dass diese Aufnahmen in den Sozialen Netzwerken geteilt wurden. Eine offizielle Anklagebegründung liegt bislang nicht vor.
Überbelegte Gefängnisse nach Massenverhaftungen
Amnesty International kritisierte die Massenentlassungen in der Türkei scharf. Es handele sich um willkürliche, politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen in mehr als 100.000 Fällen, heißt es in einem aktuellen Bericht und weist außerdem darauf hin, dass die Betroffenen keine Möglichkeit hätten, gerichtlich gegen ihre Entlassung vorzugehen. Mehrere tausend Personen wurden nach ihrer Entlassung verhaftet. Begründet wird dies in der Regel entweder mit Gülen-Anhängerschaft oder unkonkret mit Terrorismus-Vorwürfen - ganz ähnlich wie bei der Mehrzahl der inhaftierten Journalisten.
Wie das türkische Innenministerium mitteilte, sind die Gefängnisse inzwischen mit neun Prozent überbelegt, die Gefangenen müssten in Schichten schlafen. Insgesamt befinden sich demnach derzeit 221.000 Menschen in der Türkei in Haft - darunter 560 Kinder mit ihren Müttern. Die meisten davon sind laut Justizministerium Kleinkinder unter sechs Jahren. In den kommenden zwei Jahren will die Türkei fast zweihundert neue Gefängnisse errichten, 67 befinden sich bereits im Bau.
Derweil mehren sich die Berichte über schwere Folter und sexuelle Gewalt in den Haftanstalten. Dies bestätigte zuletzt auch die CHP-Abgeordnete Safak Pavey, die mehrere Gefängnisse besucht hat. Aus ihrer Sicht hat es "in der türkischen Geschichte keine andere Zeit gegeben, in der die Rechte der Inhaftierten heftiger missachtet wurden" als heute. "Menschenrechtsverletzungen sind institutionalisiert worden", sagt sie, und weiter: "Viele der Gefangenen haben keinen Zugang zu Anwälten. Wenn jemand einen Arzt braucht, wird das, von Notfällen abgesehen, ignoriert."