Türkische Nichtwähler: Die Ungehörten

Mehr als die Hälfte der türkischen Wahlberechtigten in Deutschland haben nicht abgestimmt. Wer sind sie? Und was sind ihre Beweggründe?

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Kurz nach dem türkischen Referendum wird in Deutschland eine alte Debatte wiederbelebt, mit alten Schlagwörtern, allen voran: Integration. Ein Wort, das längst schon keinen Inhalt mehr hat. Aber als sichtbar wurde, dass 63 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland für Erdogans Verfassungsreform votiert hatten, meinten viele wieder, sie sei gescheitert, die Integration.

Einmal mehr fordern konservative bis rechte Politiker die Abschaffung des Doppelpasses oder gar die Ausweisung der Ja-Wähler aufgrund ihres vermeintlich mangelnden Demokratie-Verständnisses. Wer so wählt, sagt mancher Kommentator, wer Diktatur und Todesstrafe unterstützt, der sei nicht integriert - was auch immer man darunter zu verstehen hat. Sind dann Wähler von AfD und NPD integriert? Oder die Schreihälse von Pegida?

Sie alle eint etwas: Sie sind eine Minderheit. Eine kleine, aber eine laute Minderheit. 412.000 Wähler waren es, die hierzulande ihr Evet für Erdogan abgaben. Das ist gerade mal rund ein Achtel der Türken in Deutschland. Und während sich die Aufmerksamkeit auf die Frage richtet, wer warum wie abgestimmt hat, geht ein anderer Aspekt fast unter. Nämlich die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten nicht abgestimmt hat. Und das bei der wohl wichtigsten Richtungswahl über die Zukunft des Landes, über die Frage, ob die Demokratie einem zutiefst autoritären System ohne Gewaltenteilung weichen soll.

Es ist gar nicht so einfach in diesen Tagen, türkische Nichtwähler aufzutreiben, die offen über ihre Entscheidung zu sprechen bereit sind. Einer von ihnen ist Ilker Karaca. "Eigentlich wollte ich wählen, mit Nein stimmen", erzählt er. "Dazu hatte ich mich erst in letzter Minute entschieden, und der Grund, aus dem es dann nicht geklappt hat, war ganz banal: Ich habe meinen türkischen Pass nicht gefunden."

Das bereut er allerdings nicht: "Ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich sehe mich als Deutschen, mein Deutsch ist besser als mein Türkisch. Ich identifiziere mich nicht mit der Türkei. Und vorher ging mir die Frage durch den Kopf: Warum soll ich mir anmaßen, an einer Wahl teilzunehmen, die mir persönlich weder Vor- noch Nachteile bringt?" Er kenne in seinem privaten Umfeld viele, die gewählt haben, könne das aber nur bedingt verstehen. "Klar", sagt er, "hat jeder das Recht, zu wählen, und man darf den Menschen dann auch nicht in ihre Entscheidung reinreden. Aber mich stört es, dass Menschen, die hier leben und nur ein paar Wochen im Jahr in der Türkei sind, dann dort unbedingt mitbestimmen wollen. Daher bin ich im Nachhinein ganz glücklich, nicht gewählt zu haben."

"Ich hatte ein ungutes Gefühl"

Ganz anders sieht es bei Azize Göz aus. Ihr Name steht auf einer Liste, die die DITIB erstellt hat - mit vermeintlichen Staatsfeinden, die ausgegrenzt und wahrscheinlich vom türkischen Geheimdienst MIT beobachtet werden. Sie seien Terroristen, heißt es aus Ankara. Die Bundesregierung reagierte zum Unmut der AKP, indem sie die Personen warnte und ihnen teils sogar Schutz anbot. "Ja, es war eine sehr wichtige Abstimmung, aber ich hatte zwei Gründe, nicht teilzunehmen", erzählt sie. "Ich war nicht sicher, was mich erwartet, wenn ich ein türkisches Konsulat betrete. Ich schlimmsten Fall wäre mein Pass weg. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich lebe in einer Kleinstadt, jeder hier kennt mich und weiß, dass ich bei Hizmet engagiert bin."

Hizmet, das ist die Gülen-Bewegung. Die AKP macht den im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch vom Sommer 2016 verantwortlich. Belege für die Anschuldigung lieferte sie bis heute nicht. In der Türkei findet aber seither eine beispiellose Verfolgung jener statt, die nur im Verdacht stehen, der Bewegung anzugehören, und der lange Arm des MIT reicht bis nach Deutschland. Mehr als 6000 Spitzel soll es hier geben.

Aber das war nicht das einzige, das Göz vom Wählen abgehalten hat: "Außerdem hatte ich kein großes Vertrauen in das Wahlergebnis. Ich weiß auch nicht, ob ich gewählt hätte, wenn die Umstände andere gewesen wären. Wenn eine Regierung sich nicht für Meinungsfreiheit interessiert, weshalb sollte sie sich dann für meine Stimme interessieren? Viele Freunde sich aus ähnlichen Gründen nicht zur Wahl gegangen. Andere hingegen sagten 'Jetzt erst recht' und haben ihre Stimme abgegeben."

"Erdogan macht, was er will"

Auch Hanife Tosun ist in der Bewegung aktiv und verzichtete auf die Stimmabgabe. "Ich war unsicher, konnte die Situation im Konsulat nicht abschätzen. Ich hatte gehört, dass einigen dort ihr Pass abgenommen wurde. Der Schwiegervater eines Freundes wurde mit seiner ganzen Familie weggeschickt. Es hieß, es gäbe Probleme mit seinem Pass. Allerdings steht sein Schwiegersohn auf den Listen mit Gülen-Anhängern, von denen die Türkei fordert, Deutschland solle sie ausliefern."

Tosun erzählt von Familien, die gespalten sind. Der Riss, der die Türkei teilt, teilt auch Verwandte. Viele seien zerstritten über die Frage: Für oder gegen Erdogan? Manch eine Familie sei dann geschlossen nicht zur Wahl gegangen, um den innerfamiliären Stress nicht noch weiter zu befeuern.

Aber auch die Resignation spielt bei Tosun eine Rolle: "Einige haben nicht gewählt, weil sie dachten: Das bringt nichts mehr. Auch ich empfand es als hoffnungslos. Erdogan hat zu viel Macht. Es war zu erwarten, dass er ein Nein nicht akzeptieren würde."

Eine ähnliche Haltung hat Ali, der seinen richtigen Namen nicht in der Presse sehen möchte. Er ist Kurde und noch nicht lange in Deutschland. Er wirkt wütend, aber auch hilflos, als er erzählt, wie Freunde von ihm aus ihren Häusern vertrieben wurden, als die Armee im türkischen Südosten einfiel. "Was soll ich denn wählen?" fragt er. "Es ändert sich ja doch nichts. Erdogan macht, was er will. Wenn er glaubt, dass es ihm Stimmen bringt, verhandelt er mit der PKK. Und umgekehrt bombardiert er die Kurden, wenn er glaubt, dass es ihm Stimmen bringt."

Die Ja-Wähler, über die so hitzig diskutiert wird, sind eine Minderheit. Es gibt doppelt so viele Nichtwähler - und offenbar haben viele von ihnen gute Gründe gehabt, nicht abzustimmen. Vielleicht könnte es helfen, sie in die Debatte einzubeziehen und den Diskurs zu versachlichen.