Türkische "alternative Fakten"
Der Bürgermeister von Ankara wittert eine Verschwörung finsterer Mächte, die Erdbeben in der Türkei verursachen
Der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, beschuldigt gegnerische Mächte, künstliche Erdbeben in der Türkei verursacht zu haben. In der Umgebung von Çanakkale gab es Anfang dieser Woche mehrere kleine Erdbeben der Stärke 5,2 -5,3 mit mehreren schwächeren Nachbeben, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad meldete. Größere Schäden wurden aber nicht berichtet.
Gökçek ist bekannt für seine skurrilen Verschwörungstheorien. So behauptete er, der islamische Prediger Fethullah Gülen hypnotisiere Menschen und bringe sie mittels Geistern in seine Gewalt. Nun lenkt Gökçek den Blick auf finstere Mächte hinter den Erdbeben. Hypnotisiert wie die türkische Öffentlichkeit durch die Regierungsbotschaften ist, wird der Gedanke an den Drahtzieher Gülen nahegelegt.
"Es gab ein Schiff, das seismische Forschung in der Gegend betrieb. Was dieses Schiff erforschte und aus welchem Land es stammte, muss dringend geklärt werden", twitterte Gökçek. Er unterstellte "ausländischen Mächten", ein großes künstliches Erdbeben bei Istanbul auslösen zu wollen, um die türkische Wirtschaft zu schwächen.
Abgesehen von den "alternativen Fakten" über künstliche Erdbeben, ist festzuhalten, dass die Stadt Çanakkale sich an einer empfindlichen geologischen Stelle befindet: an der Meerenge der Dardanellen, auf einer Verwerfungslinie, die durch das Marmara-Meer, an dem auch Istanbul liegt, verläuft. Kleinere Erdbeben werden in diesem Gebiet immer wieder aufgezeichnet.
Es gibt dort tatsächlich Forschungsschiffe, die seismische Messungen machen und in ein Frühwarnsystem einspeisen. Allerdings nicht, um die türkische Wirtschaft zu schwächen, sondern um die Bevölkerung vorzuwarnen - falls diese Warnungen von der derzeitigen türkischen Regierung überhaupt veröffentlicht werden und nicht als Verschwörungstheorie abgetan werden.
Warnungen vor großem Erdbeben in der Westtürkei
Im Herbst 2016 warnte ein Erdbebenforscher vor einem größeren Erdbeben, das Istanbul und vor allem die vorgelagerten Prinzeninseln ereilen könnte. Der französische Geophysiker Professor Xavier Le Pichon forscht seit 15 Jahren im Marmara-Meer. Im Oktober letzten Jahres warnte er vor einem potenziellen Erdbeben in Istanbul mit einer Größenordnung von 7.6 auf der Richterskala.
Der Zeitung Hürriyet berichtete er, dass sich das Erdbeben der Stadt langsam nähere. Le Pichon beruft sich dabei auf Daten des französischen Forschungsschiffes Le Suroit, das nach dem Gölcük Erdbeben 1999 in der Türkei stationiert wurde.
Die Daten zeigen, dass sich die nordanatolische Verwerfungslinie näher auf die Marmara-Provinz und damit auf Istanbul zubewegt. Im Jahr 2001 wurde von Prof. Celal Şengör und Prof. Tuncay Taymaz von der Istanbul Tecnical University eine Forschung durchgeführt, die die Informationen bestätigten.
Gut möglich, dass der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek das französische Forschungsschiff meint, das künstliche Erdbeben hervorruft, um der Türkei zu schaden. Künstliche Erdbeben können tatsächlich hervorgerufen werden, allerdings bedarf es da mehr als einiger Geräte an Bord eines Schiffes. Vielleicht hat ja Gülen Nordkoreas Präsidenten Kim Jong-un gebeten, heimliche Atomtests mit europäischen Forschungsschiffen durchzuführen, um an der fragilen Bruchkante Beben auszulösen?
Man darf gespannt sein, was sich die türkische Regierung noch so ausdenkt, um die Bevölkerung zu überzeugen, dass Erdogan sogar Naturkräfte bezwingen kann, weil das in Wirklichkeit ausländischen Mächte sind, die diese Naturkräfte einsetzen.