Türkischer Oettinger
Hat sich Abdullah Gül tatsächlich gewandelt oder ist er nur auf einem Marsch durch die Institutionen?
Am Sonntag ging in Istambul fast eine Millionen Menschen gegen die Entscheidung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan auf die Straße, den derzeitigen Außenminister Abdullah Gül als Staatspräsidenten zu installieren. Sie befürchten, dass die bislang gemäßigt islamistisch agierende AKP nach der Übernahme aller wichtigen Staatsämter ihr "wahres Gesicht" zeigen könnte.
Gül bekleidete wichtige Ämter in der Wohlfahrtspartei und der Tugendpartei. Beide Parteien wurden vom türkischen Verfassungsgericht wegen "Aktivitäten zum Umsturz der weltlichen Verfassungsordnung" verboten. In einem Interview mit der englischen Zeitung The Guardian hatte der Kandidat 1995 gesagt, er und seine Kampfgenossen wollten "definitiv das säkulare System ändern" und ein "Ende der türkischen Republik". Später distanzierte er sich von diesen Äußerungen. Die Demonstranten sehen in dieser Distanzierung aber ein bloßes Lippenbekenntnis - eine Maske, die abgelegt wird, wenn der Marsch durch die Institutionen beendet ist. Ein sehr wichtiger Schritt dazu wäre die Übernahme des Amtes des Staatspräsidenten. Tatsächlich ist relativ unklar, inwieweit die ehemaligen oder heimlichen Islamisten in der türkischen Regierungspartei AKP ihre ursprünglichen Ziele tatsächlich abgemildert oder aufgegeben haben – denn nicht immer muss so etwas so schnell und gründlich vonstatten gehen wie bei den deutschen Grünen.
Militär will "Stellung beziehen"
Diese Frage bewegt auch das türkische Militär seit längerem. Am Abends des 27. April erreichte die türkische Öffentlichkeit eine Erklärung des Generalstabes, mit einer sehr deutlichen Warnung an die Regierung, dass sie mit der Nominierung Güls den Laizismus und die Verfassung gefährde: Die Republik sei in ernster Gefahr und das Militär werde Stellung beziehen, wenn dies nötig sein würde.
Ob dies ein Ultimatum bedeutet, darüber wird in türkischen Medien heftig diskutiert. Die Regierung Erdogan schien die Stellungnahme weniger ernst zu nehmen. In einer bemerkenswerten Ausblendung der Geschichte, der politischen Kultur und der informellen Gewaltenteilung in der Türkei erklärte Regierungssprecher Cemil Cicek, dass das Militär ja dem Ministerpräsidenten unterstehe. Beobachter vermuteten allerdings, dass Erdogan hinter den Kulissen mit Generalstabschef Yasar Büyükanit verhandelt.
Schon seit längerem gingen in der Türkei Putschgerüchte um. Die gemäßigt islamistische Regierung Erdogan war vom Militär unter anderem deshalb akzeptiert worden, weil mit Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer ein kemalistisches Gegengewicht vorhanden war. Durch die Ankündigung der Wahl eines neuen Präsidenten aus den eigenen Reihen brachen die Religiösen diesen ungeschriebenen Kompromiss – was die erwartbaren Reaktionen hervorrief.
Befeuert wurden die Putschgerüchte auch von der amerikanischen Politik im Irak (den militante Kurden als Basis für Aktivitäten in der Türkei nutzen) und von Vorwürfen, dass die USA kurdische Terrorkommandos für Einsätze im Iran ausrüsteten, was zu einer Destabilisierung der Südosttürkei führe. Gül sandte als Außenminister zwar scharfe diplomatische Noten an die USA und den Irak - Kritiker vermuten aber, dass er sich eines vom Generalstab gewollten militärischen Eingriffs im Nordirak verweigerte und so zusätzlichen Zorn der Militärs auf sich zog. Auch bei den Anti-Gül-Demonstranten vom Sonntag gab es Parolen, die der AKP-Regierung vorwarfen, ihr Land an die USA zu verkaufen.
Die Rolle des Militärs ist in der Türkei weit weniger eindeutig als etwa in Argentinien oder Chile. Zwar haben auch die türkischen Militärs zahlreiche Menschenrechtsverletzungen auf dem Konto (vor allem nach dem Putsch von 1980) - andererseits stürzten sie aber auch Adnan Menderes und zogen ihn wegen seiner Rolle bei der Vertreibung der Griechen aus Konstantinopel zur Rechenschaft.
Menderes hatte den Protektionismus durch einen wirtschaftsliberalen Kurs ersetzt, Anordnungen Atatürks (wie die der Durchführung des Gebetsrufes auf türkisch) rückgängig gemacht und einen Kurs der stärkeren Bindung an muslimische Länder gefahren. Um von der zunehmenden Spaltung der Bevölkerung in Arm und Reich abzulenken, schränkte er die Freiheit von Forschung und Lehre an den Universitäten ein und ließ Zeitungen verbieten. Im September 1955 inszenierte er ein Pogrom gegen die griechische Minderheit in Istambul, das die Flucht fast aller verbliebenen Griechen zur Folge hatte.
Entscheidung beim Verfassungsgericht
Eventuell flankieren die Drohgebärden des Militärs aber auch nur die Lösung der Frage auf einem Wege, der auch amerikanischen und deutschen Beobachtern vertrauter ist: Es wird allgemein erwartet, dass das türkische Verfassungsgericht in den nächsten Tagen einem Eilantrag der Opposition entspricht und eine einstweilige Verfügung gegen die Durchführung der Präsidentschaftswahl bis zur Klärung der Frage erlässt, ob ein Wahl Güls wegen zu geringer Beteiligung ungültig wäre oder nicht. Das wiederum gäbe der AKP die Gelegenheit zu Neuwahlen ohne Gesichtsverlust. Fraglich ist dagegen, ob das Verfassungsgericht auch an der 10%-Hürde rüttelt, die dazu führte, dass bei der letzten Parlamentswahl etwa 40% der Wählerstimmen aus der Zählung heraus fielen – was wiederum zur Folge hatte, dass die AKP, die lediglich 32% der Wählerstimmen erhielt, mit absoluter Mehrheit regieren kann.