UK-Wahlkampf: Nur noch abschalten, sobald ein Politiker den Raum betritt
Am 12. Dezember wird in Großbritannien gewählt und man muss tiefer schauen, um zu begreifen, worum es hier eigentlich geht.
Am 12. Dezember finden in Großbritannien die Parlamentswahlen statt. Sie werden oft in den Rahmen der "Brexit-Wahlen" gegossen. Tatsächlich spielt der Brexit, beziehungsweise das ewige Gerangel um diesen seit den letzten Wahlen 2017, durchaus eine Rolle. Doch man muss tiefer schauen, um zu begreifen, worum es hier eigentlich geht.
Der konservative Premierminister Boris Johnson hat zwei wesentliche Slogans ausgegeben: "Get Brexit done" und "das Parlament gegen das Volk". Diese Parolen richten sich direkt an die ermüdeten Bevölkerungsteile. Jene, die einfach nur noch abschalten, sobald ein Politiker den Raum betritt. Johnsons Wahlkampf ist somit eine Art negativer Populismus. Sein Wahlprogramm ist ein Anti-Programm. Die Botschaft: "Lasst mich nur machen, dann lasse ich euch in Ruhe".
Konservative Partei: toxisches Produkt
Johnson kann nicht wie sein Gegenspieler Jeremy Corbyn auf große Kundgebungen setzen. Zwar haben die Tories hohe Umfragewerte unter jenen, die beim Brexit-Referendum für "leave" gestimmt haben. Doch ansonsten ist die konservative Partei ein toxisches Produkt - und als jahrzehntelanges führendes Mitglied dieser Partei ist Johnson in den Augen vieler Menschen deshalb ebenso toxisch, auch wenn er sich redlich um ein populäres Image bemüht.
Deshalb sind alle öffentlichen Auftritte Johnsons vom Anfang bis zum Ende durchgeplant. Nichts ist spontan oder wird dem Zufall überlassen. Ende November machte in sozialen Netzwerken ein Brief die Runde, in dem ein anonymer Arzt aus dem Krankenhaus einer mehrheitlich "leave" orientierten Stadt darüber berichtet, wie es war, als Boris Johnson "sein" Krankenhaus für einen Medienauftritt besuchte.
Einige Auszüge: "Man hat uns erst am Tag selbst aus Sicherheitsgründen Bescheid gesagt. Sie haben die Wände der Station, auf der ich arbeite, neu angestrichen. Die Reinigungskräfte wurden an einem regnerischen Tag vor die Tür auf den Parkplatz geschickt, um bei strömenden Regen Blätter vom Rasen aufzuheben. (…) Wir wurden gefragt, ob wir ihn (Boris Johnson) treffen wollen. Jeder Arzt im Krankenhaus sagte nein. (…) Er wurde von mehr Management und Exekutives begleitet, als ich jemals gesehen habe. Das waren junge Männer in teuren Anzügen, sie schauten sich um wie Touristen auf Safari. (…) Die Atmosphäre war angespannt und unangenehm. Wütend und bedrückt. (…) Es war wie der Besuch eines gewalttätigen Lebensgefährten, der fragt, ob er etwas tun könne, um zu helfen. (…) Es wurde gebuht, manche haben ihm den Rücken zugedreht. Eine Angestellte lies ihre Brille zu Boden fallen, um ihm nicht die Hand schütteln zu müssen. Jeder Patient, den ich an diesem Tag begegnete sagte, mir, dass man ihn bloß fernhalten solle. 'Ich würde ihm sonst eine runterhauen.' 'Werft ihn aus dem Krankenhaus raus.' (...)"
Es geht weiter. Der Doktor beschreibt, wie das Krankenhauspersonal nach Ende des Besuch "fast zu wütend zum Arbeiten" war. Es folgte eine Zwölfstundenschicht, alle Zimmer waren belegt, Patienten wurden auf den Fluren abgelagert, draußen standen die Krankenwagen Schlange. Der anonyme Arzt beschreibt dies als Ausdruck der von den Tories verfolgten Sparpolitik der letzten Jahre. Seit fünf Jahren habe das Krankenhaus um zusätzliche Gelder gebettelt, erst durch den Fototermin habe man sie bekommen: "Danke für die Krümel."
Streiks
In dieser Anekdote spiegelt sich die frustrierte Stimmung im Land. Der Wahlkampf ist auch deshalb ungewöhnlich, weil er von durchaus größeren Streiks begleitet wird. Anfang Dezember begann ein auf 28 Tage angesetzter Streik bei dem Eisenbahnkonzern "South West Railways" wo die Abschaffung der Zugbegleiter als Einsparungsmaßnahme vorbereitet wird.
Ein geplanter Streik aller 100.000 Beschäftigten bei der Post gegen geplante Lohnkürzungen kann nur deshalb nicht stattfinden, weil er vom britischen "High Court" verboten worden ist, obwohl 97% der Beschäftigten bei einer Briefwahl für den Streik gestimmt haben.
Privatisierung
Johnson kann in seinem Wahlkampf auf Schützenhilfe durch die große Mehrheit der britischen Medien zählen. Als Oppositionsführer Jeremy Corbyn am 27. November Dokumente vorlegte, die zeigen, dass die britische Regierung unter Johnson trotz gegenteiliger Beteuerungen bereit ist, mit den USA über eine Privatisierung des britischen Gesundheitswesens im Rahmen eines Freihandelsabkommens zu verhandeln, zeigte der Staatssender BBC Boris Johnson beim Verspeisen von Marmeladenbrötchen, ohne diesem auch nur eine Frage über die dieses Thema zu stellen.
Seit Montag, dem 2. Dezember sind die Privatisierungspläne überhaupt kein Thema mehr. Stattdessen geht es den meisten Tageszeitungen um die Frage, ob die zunächst auf der Onlineplattform Reddit geleakten Dokumente nicht vielleicht von "den Russen" ausgespielt worden seien. Die gewünschte Implikation: "Labour-Parteichef Corbyn arbeitet mit ausländischen Geheimdiensten gegen das eigene Land."
Lügen und Halbwahrheiten
Johnson nutzt in diesem Wahlkampf konsequent Lügen und Halbwahrheiten. Der konservative Journalist und ehemaliger leitender politischer Kommentator der Tageszeitung Daily Telegraph hat inzwischen eine eigene Webseite gebastelt, um dies zu dokumentieren. Johnson habe einen wahren "Lügen-Tsunami" ausgelöst, so Oborne in einen Gastkommentar für den Guardian.
Ein Beispiel dafür ist die am Sonntag von Johnson im Zuge der Ermordung von zwei Personen durch einen mutmaßlichen Dschihadisten aufgestellte Behauptung, Corbyn wolle den Inlandsgeheimdienst MI5 abschaffen und so die Terrorbekämpfung schwächen. Corbyn hat dergleichen nie gefordert, auch wenn der linke Flügel seiner Bewegung dem sicher etwas abgewinnen könnte.
Gleichzeitig vermeidet Johnson ihm unangenehme Medientermine. Bei einer Fernsehdebatte zum Thema Klimawandel des Fernsehsenders Channel 4 fehlte Johnson. Weil die Regie ihn während der Sendung durch einen schmelzenden Eisblock repräsentierte, droht Johnson dem Sender nun mit Lizenzentzug nach den Wahlen.
Dabei hat Johnson eigentlich die geballte Medienmacht Großbritanniens hinter sich. Auch wenn Teile der britischen Medienlandschaft den Brexit ablehnen, Corbyns Verstaatlichungsprogramm ist ihnen und anderen in Großbritannien aktiven Großkonzernen noch mehr zuwider.
Laut Informationen der Financial Times haben in der privatisierten Strom-, Wasser-, Gas- und Telekommunikationsversorgung aktive Konzerne inzwischen damit begonnen ihr Vermögen aus Großbritannien abzuziehen und in Steueroasen wie Hongkong, Luxemburg oder der Schweiz anzulegen.
Gleichzeitig sollen bereits rechtliche Schritte gegen eine mögliche Labour-Regierung vorbereitet werden, so das Blatt am 3. Dezember. Möglich sei zum Beispiel eine Klage nach dem EU-Wettbewerbsrecht.
Labours Trümpfe und die Achillesferse
Die Labour-Partei setzt derweil auf die Mitgliedschaft, um ihre Botschaft unter die Leute zu kriegen. Mit großangelegten Klinkenputzaktionen sollen die Wähler erreicht werden. Es gibt erste Anzeichen, dass dies funktioniert. Seit einigen Tagen schmilzt der Abstand zwischen Labour und den Tories.
Für die Wahlen am 12. Dezember haben sich deutlich mehr junge Wähler registrieren lassen, als dies 2017 der Fall war. Laut Meinungsumfragen votieren 55% der 18- bis 24-Jährigen für Labour und nur 22% für die Tories. Die Botschaft, dass eine bessere Zukunft jenseits von Austeritätspolitik möglich ist, kommt immer noch an.
Die große Achillesferse für Labour bleibt der Brexit. Zwar können sich derzeit 48% aller "remainers" vorstellen, Labour zu wählen, das gilt aber nur für 16% der "leavers". Hier führen die Tories mit 70%. Deshalb schrillen bei den britischen Sozialdemokraten sowie deren Unterstützern nun die Alarmglocken.
In einem Interview für die Huffington Post beschrieb Len McCluskey, der Vorsitzende der Großgewerkschaft UNITE, die Arbeitergegenden im Norden und der Mitte Englands, in denen es Mehrheiten für den EU-Austritt gegeben hat, als "Achillesferse" für Labour.
Eine Meinungsumfrage unter 75.000 UNITE-Mitgliedern habe ergeben, dass viele von ihnen noch unentschlossen seien. Labour steht bekanntlich für ein zweites Referendum nach erneuten Brexit-Verhandlungen mit der EU. Viele "leave"-Wähler lehnen dies als undemokratisch ab.
Boris Johnson wollte diesen Wahlkampf, um für klare Mehrheiten in Westminster zu sorgen. Die Wahrscheinlichkeit dafür sinkt derzeit täglich. Weder Johnson noch Corbyn können sich sicher sein, den 13. Dezember als Wahlsieger zu erleben.
Aus heutiger Sicht ist wahrscheinlich, dass beide auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen sein werden, um regieren zu können. Großbritannien bleibt auch weiterhin ein instabiles Land.
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