Über 50 Grad und Mafiamilizen

Screenshot Video al-Jazeera/YouTube

Irak: Das Erbe der US-Besatzung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am Donnerstag wurden 51 Grad Celsius als Höchsttemperatur in Bagdad angegeben, vergangene Woche wurden Rekordtemperaturen von 54 Grad gemeldet. Das ist nichts Neues. Solche Meldungen gibt es seit Jahren regelmäßig (etwa: "Die heißeste Stadt der Welt", NBC 2015).

Bitter ist, dass seit vielen Jahren auch die Wut bleibt: über tägliche, stundenlange Stromausfälle, die Klimaanlagen nutzlos machen, über das Ausgesetztsein, über überteuerte Rechnungen, die an private Generatorenbetreiber bezahlt werden müssen, über desolate Zustände in einem ölreichen Land, die sich weiter nur verschlimmern.

Die Armutsrate ist infolge der Corona-Virus-Pandemie von 20 Prozent auf 34 Prozent gestiegen, bis zum Ende des Jahres erwartet das irakische Planungsministerium eine weitere Steigerung um 50 bis 60 Prozentpunkte. Woher soll das Geld für ein "Stimuluspaket" kommen, um die Konjunktur zu beleben?, fragen sich Beobachter in Anzug und Krawatte.

Beim Blog 1001IraqiThoughts stellt der Programm-Manager der Internationalen Energieagentur (IEA) für den Nahen Osten und Nordafrika eine Rechnung auf - mit der These: Es muss doch nicht so sein. Die chronische Strom-Knappheit muss doch nicht so schlimm sein. Seit 2012 habe das Land doch 20 Milliarden US-Dollar an Kapitalinvestitionen in diesen Sektor gesteckt ... Nach Plan sollte die Kapazität um 13 GW vergrößert werden, so Ali Al-Saffar. Dann rechnet er vor:

Nur 8 Gigawatt zählen als "effektive Kapazität", 5 Gigawatt gehen verloren, weil die Kraftwerke schlecht gewartet werden und einen niedrigen Effizienzgrad haben. Von den bleibenden 8 GW, die tatsächlich produziert werden, erreichen nur 4 GW den Konsumenten, da 40 bis 50 Prozent des Stroms, der produziert wird, im Übertragungs- und Verteilungsnetz verloren gehen. Das ist eine der höchsten Verlustraten in der Welt. (...) Wenn man diese Verlustraten auf einen regionalen(?) Durchschnittswert reduzieren könnte, dann würde Iraks Elektrizitätsversorgung 125 Terrawattstunden erreichen, und damit genügend für die Nachfrage im ganzen Land produzieren.

Ali Al-Saffar, IEA

Die Nachfrage steige im Irak um etwa 7 bis 10 Prozentpunkte jährlich, so Saffar. Die Bevölkerung wächst um etwa 1 Million im Jahr (derzeit sind es laut Worldometers 40,3 Mio). Die Nachfrage nach Kühlung in den heißen Monaten steigt.

Gegenwärtig sei es aber offenbar nicht möglich, die Stromversorgung in einer Weise zu verbessern, die mit der gestiegenen Nachfrage Schritt hält und zugleich die Verluste im Übertragungsnetz wettmacht.

"Das bedeutet: Wenn nicht schnell Entscheidungen getroffen werden, wird sich die Situation schnell weiter verschlimmern. Im Irak wird die Zeit knapp."

Mit der Stromknappheit sind Demonstrationen und Proteste verbunden, auch sie gab es regelmäßig jedes Jahr, meist im Süden des Landes. Doch im Oktober letzten Jahres haben die Proteste im Irak eine größere Dimension angenommen und es gab brutale, tödliche Gegenreaktionen darauf seitens der Sicherheitskräfte und von anderen Akteuren.

Korruption ist ein Riesenproblem im Irak.

Das ist ein Fazit, das 17 Jahre nach dem Einmarsch der US-Truppen in den Irak getroffen wird, nachdem unzählige Milliarden US-Dollar ins Land gebracht wurden, um die Verhältnisse dort zu bessern, nachdem man den Diktator Saddam Hussein abgesetzt hatte. Noch immer werden US-Dollars in bar tonnenweise in den Irak verfrachte, die 1001 Geschichten von den Koffern voller US-Banknoten, die zur Zeit der US-Besatzung ins Land gebracht wurden, sind noch nicht auserzählt:

Ungefähr jeden Monat wird ein Lastwagen (im East Rutherford Operations Center (EROC) der Federal Reserve, Anm. d.A.) mit mehr als 10 Tonnen in Plastik verpackten US-Banknoten im Wert von 1 bis 2 Milliarden Dollar beladen. Das Geld wird zu einer Luftwaffenbasis gebracht und nach Bagdad geflogen. Es gehört der irakischen Regierung, die ihre Ölverkäufe über ein Konto der New York Federal Reserve abwickelt. Dieses außergewöhnliche Arrangement ist ein Erbe der US-Besatzung, als Amerika die irakische Regierung und seine Finanzen direkt kontrollierte. Es wurde behalten, da es beiden Seiten passt: Die Iraker bekommen schnelle und bevorzugten Zugang zu Dollars und die Vereinigten Staaten behalten einen enormen Einfluss auf die irakische Wirtschaft.

New York Times

Jährlich sollen es 10 Milliarden US-Dollar sein, die auf diese Weise in den Irak geliefert werden, so der Bericht des Pulitzer-Preisträgers Robert F. Worth. Aufmerksamen Lesern wird vielleicht die Ungenauigkeit auffallen. Es wird groß gerechnet. Wenn monatlich US-Banknoten im Wert von 1 bis 2 Milliarden Dollar nach Bagdad geliefert werden, so ergibt das eine etwas höhere Summe.

"Kleptokratie"

"Schwund" ist das große Thema des Berichts, ein ganz ähnliches Phänomen wie oben bei der Stromversorgung geschildert. Worth hat dafür eine Überschrift "Kleptokratie". Gemeint ist Korruption, die von großem Summen in großem Stil gefördert wird und eine Mafia-ähnliche Struktur im Irak mitaufgebaut hat. Zur Kleptokratie liefert Worth viele Zoom-Bilder; etwa, wie eine schiitische Miliz, die berüchtigte Kataib Hezbollah, den Flughafen in Bagdad unter ihre Geschäftskontrolle gebracht hat, wie viel Millionen bei Bauprojekten oder beim Verkauf von Medikamenten bei Managern oder in der Kette von Behördenentscheidern und -beteiligten hängenbleiben.

Zwischen 125 Milliarden und 150 Milliarden US-Dollar sollen von Irakern, die die entsprechende Stellung am "Dollar-Wasserloch" hatten, ins Ausland gebracht worden sein, "most of it 'illegitimately acquired'" (auf illegitime Weise erlangt), manche Schätzungen gehen gar von 300 Milliarden US-Dollar aus, mindestens 10 Milliarden davon sollen in Immobilien in London gegangen sein, zitiert Worth einen "älteren Staatsmann" aus dem Irak mit Erfahrungen im Finanzwesen. Die Informationen seien für den Think Tank Atlantic Council gesammelt worden.

Mit der Erwähnung des Atlantic Council werden Zweifel bestärkt, die eine politische Agenda betreffen. Könnte es denn sein, dass Worth einen Bericht über die Kleptokratie im Irak verfasst, die das Anti-Iran-Sentiment bestärkt? Die Antwort ist einfach: Ja, es ist so. Die Miliz Kataib Hezbollah, der eine große Nähe zu Irans Führung, besonders zu den Revolutionswächtern nachgesagt wird, ist in Worths Bericht eine Miliz, die mit Mafia-Methoden vorgeht. Kriegspolitisch war der Konflikt zwischen US-Truppen im Irak und der Kataib Hezbollah Anfang des Jahres der Vorlauf zum tödlichen US-Anschlag auf den iranischen General Soleimani.

Dabei waren viele Ungenauigkeiten in der Weitergabe von Informationen im Spiel, kurz gesagt: Propaganda und Machtinteressen. Der Verdacht, dass der New York Times-Bericht auch gut zur anti-iranischen Agenda passt, wird von ihm genährt.

Allerdings gibt es neben der geopolitischen Strategie-Perspektive noch eine andere: Sie geht von der Lage der Bevölkerung aus. Und dafür, wie viel Geld in Form von Investitionskapital oder grundlegend für die Überlebensversorgung durch ein Schwund-System im Irak der Bevölkerung genommen wird, liefert der NYT-Bericht überzeugendes, recherchiertes Anschauungsmaterial.

Dabei kommen die USA nicht gut weg, weil sie die Kleptokratie und die Korruption mit der Invasion und den Ladungen voller Geld, die Köpfe und Herzen erobern sollten, auf eine neue Stufe gehoben haben. Das ist eine unübersehbare Folge. Jetzt kommen noch die Auswirkungen der Corona-Pandemie dazu.

Kinder und Heranwachsende werden mit dem höchsten Anstieg der Armut konfrontiert. Bevor die Pandemie ausgebrochen ist, war eins von fünf Kindern oder Heranwachsenden arm. Dieser Anteil hat sich nun auf 2 von 5 verdoppelt, und entspricht 37,9 Prozent aller Kinder.

UNICEF, 8. Juli 2020

Die Frage "was wächst da für eine Generation heran, welche Bedingungen und Chancen hat sie?" konnte bisher leichter weggewischt werden - sie wurde als genauso störend und naiv in das Register abgetan wie die Aufrechnung, was man mit dem Rüstungs- und Militärbudget Besseres anfangen könnte - , aber der Blick ändert sich. Wenn Kinder die Mehrheit der 4,5 Millionen Iraker sind, die nun in die Armut fallen, so ist das eine Katastrophe, die Auswirkungen auch auf Europa hat.

Nicht nur im Irak: Laut der NGO Save The Children sind im Großraum Beirut 910.000 Menschen, davon mehr als die Hälfte Kinder, vom Hunger bedroht. Auch im Libanon kann man von einer Kleptokratie sprechen.