Ukraine: Hat der Westen die diplomatischen Verhandlungen gestoppt?
Im Frühjahr war eine Einigung zwischen der Ukraine und Russland zum Greifen nah, wie Foreign Affairs berichtet. Doch die Verhandlungen wurden plötzlich abgebrochen. Was hat das mit einem Besuch des damaligen britischen Premierministers zu tun?
Eine diplomatische Lösung sei nicht möglich, solange Russland in der Ukraine Krieg führt. Jedenfalls keine, die für die Ukraine akzeptabel ist. Daher bleibe nur der militärische Weg, russische Truppen aus der Ukraine herauszudrängen und den Konflikt derart zu beruhigen. Das ist die Logik, die angesichts des Ukraine-Kriegs in den USA und Europa vorherrscht.
Die Chancen für Verhandlungen sind tatsächlich im Moment gering. Es sieht sehr danach aus, dass der Ukraine-Krieg noch lange andauern könnte, mit allen Konsequenzen, die das insbesondere für die Ukrainer:innen bedeutet.
Die düstere Aussicht wird bestärkt dadurch, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Ende vergangener Woche alle Dekrete über die Bildung der Trilateralen Kontaktgruppe (TCG) zur Beilegung der Situation in den Regionen Donezk und Luhansk aufkündigte und die Verhandlungsdelegation auflöste. Telepolis hat darüber berichtet.
Aber, wie US-Kritiker Noam Chomsky im Interview ebenfalls auf Telepolis betont, ist eine diplomatische Beendigung des Krieges weiter möglich. Allerdings nur, wenn der Westen angeführt von den USA Verhandlungen nicht weiter blockiere. Der entscheidende Stolperstein für Verhandlungen ist eine mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Die USA lassen das aber weiter offen, Russland ist strikt dagegen.
Wie die US-Fachzeitschrift Foreign Affairs jetzt berichtet, scheint die ukrainische Führung während der Verhandlungen mit Russland im April bereit gewesen zu sein, sich auf ein Abkommen zu einigen, um den Krieg zu beenden. Die Autorin Fiona Hill bezieht sich dabei auf Aussagen verschiedener ehemaliger US-Beamter:
Russische und ukrainische Unterhändler schienen sich vorläufig auf die Grundzüge einer ausgehandelten Zwischenlösung geeinigt zu haben (…): Russland würde sich auf seine Position vom 23. Februar zurückziehen, als es einen Teil der Donbass-Region und die gesamte Krim kontrollierte, und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine Nato-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern zu erhalten.
Doch die Verhandlungen wurden schließlich abgebrochen. Der US-Journalist Branko Marcetic, Redakteur des US-Magazins Jacobin, weist darauf hin, dass ein Besuch vom damaligen britischen Premierminister Boris Johnson wahrscheinlich der Grund dafür gewesen ist. Er bezieht sich dabei auf eine Meldung der westlich orientierten Nachrichtenseite Ukrainska Pravda.
Sie vermeldete am 5. Mai, gestützt auf Quellen aus dem engen Umkreis von Selenskyj, von einem überraschenden Besuch Johnsons in Kiew. Danach habe die ukrainische Delegation plötzlich bekannt gegeben, dass ein hochrangiges Treffen zwischen Wladimir Putin und Selenskyj, wie noch vorher zum Greifen nah, nun nicht mehr möglich sei.
Johnson habe bei dem Treffen in der Ukraine die kollektive Position des Westens klargestellt und zwei Botschaften überbracht, so die Ukrainska Pravda:
Putin ist ein Kriegsverbrecher und muss unter Druck gesetzt werden, statt mit ihm zu verhandeln. Und die Zweite besteht darin, dass, selbst wenn die Ukraine zu einem Abkommen mit Putin bereit sei, werde man diesen Weg nicht mitgehen.
Wenn es stimmen sollte, dass der Westen die diplomatischen Verhandlungen im Frühjahr stoppte, dann bedeutet es aber gleichzeitig auch, dass der Verhandlungsweg weiter begehbar ist, sollten direkte Gespräche zwischen Moskau und Kiew wieder aufgenommen werden. Dafür müssten aber die USA Russland das Versprechen geben, die Ukraine nicht in die Nato aufnehmen zu wollen.
Der Journalist Connor Echols auf Responsible Statecraft hält es für denkbar, dass die jüngsten Einigungen zwischen der Ukraine und Russland bei den Getreideexporten und hinsichtlich des Besuchs von Inspektoren des von russischen Truppen gehaltenen Atomkraftwerks Saporischschja ein Fundament für Diplomatie bilden könnten.
Sowohl Kiew als auch Moskau haben gezeigt, dass sie die sekundären Auswirkungen des Konflikts abmildern wollen, und sie sind bereit, mit der Gegenseite zu verhandeln, um dies zu erreichen. Doch solange sich dieser Krieg hinzieht, werden die Menschen auf der ganzen Welt weiter leiden, und das Schreckgespenst einer Katastrophe – sei es durch einen irrtümlichen Angriff auf ein nukleares Kraftwerk oder eine unkontrollierte Eskalation zu einem Atomkrieg – wird weiter drohen. Es ist an der Zeit, dass Russland, die Ukraine und der Westen erkennen, dass es nur einen Weg gibt, diesen Risiken ein Ende zu setzen: Legen Sie die Waffen nieder und setzen Sie sich an den Verhandlungstisch.