Chomsky: In der Ukraine ist eine diplomatische Lösung immer noch möglich

Ukrainer:innen auf einem zerstörten russischen Panzer am Stadtrand von Kiew im April 2022. Bild: manhhai / CC BY 2.0

Noam Chomsky sagt: Die Meinungsfilterung im Ukraine-Krieg ist extrem und schädlich. Es braucht Verhandlungen und diplomatischen Kompromiss. Das sei weiter möglich.

Das Interview mit Noam Chomsky führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Es erschien zuerst auf der US-Nachrichtenseite Truthout.

Sechs Monate sind seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vergangen, doch ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Putins Strategie ging gewaltig nach hinten los, da es nicht nur nicht gelang, Kiew zu stürzen, sondern auch das westliche Bündnis wiederbelebte, während Finnland und Schweden ihre jahrzehntelange Neutralität beendeten und der Nato beitraten. Der Krieg hat außerdem eine massive humanitäre Krise ausgelöst, die Energiepreise in die Höhe getrieben und Russland zu einem Pariastaat gemacht. Vom ersten Tag an bezeichneten Sie die Invasion als verbrecherischen Akt der Aggression und verglichen sie mit dem Einmarsch der USA in den Irak und dem Einmarsch Hitlers und Stalins in Polen, auch wenn sich Russland durch die Nato-Osterweiterung bedroht fühlte. Ich vermute, dass Sie diese Ansicht immer noch vertreten. Glauben Sie, dass Putin eine Invasion nicht in Erwägung gezogen hätte, wenn er sich klar darüber gewesen wäre, dass sein militärisches Abenteuer in einem langwierigen Krieg enden würde?

Noam Chomsky ist Professor für Linguist, US-Kritiker und Aktivist. Er hat rund 150 Bücher geschrieben.

Noam Chomsky: Putins Gedanken zu lesen, ist zu einer Art Kaffeesatzleserei geworden, die sich durch die extreme Zuversicht derjenigen auszeichnet, die die spärlichen Kaffeespuren interpretieren. Ich habe einige Vermutungen, aber sie beruhen nicht auf besseren Belegen als die anderer, die wenig Substanz haben.

Ich vermute, dass der russische Geheimdienst mit der US-Regierung in der Annahme übereinstimmte, dass die Eroberung Kiews und die Einsetzung einer Marionettenregierung ein leichtes Unterfangen sein würde und nicht das Debakel, zu dem es wurde. Hätte Putin bessere Informationen über den ukrainischen Willen und die Fähigkeit zum Widerstand sowie über die Unfähigkeit des russischen Militärs gehabt, wären seine Pläne wohl anders ausgefallen.

Vielleicht hätte er dann das gemacht, was viele informierte Analysten erwartet haben und was Russland nun als Plan B zu verfolgen scheint: nämlich den Versuch zu unternehmen, die Kontrolle über die Krim und den Transitweg nach Russland zu abzusichern und den Donbas zu übernehmen.

Möglicherweise hätte Putin aufgrund besserer Geheimdienstinformationen die Klugheit besessen, auf die zaghaften Initiativen Macrons für eine Verhandlungslösung zu reagieren, die den Krieg vermieden hätten, und vielleicht sogar zu einer europäisch-russischen Annäherung nach dem Vorbild der Vorschläge von de Gaulle und Gorbatschow überzugehen. Alles, was wir wissen, ist, dass die Initiativen verächtlich abgetan wurden, was Russland teuer zu stehen gekommen ist. Stattdessen begann Putin einen mörderischen Angriffskrieg, der in der Tat mit der US-Invasion im Irak und dem Hitler-Stalin-Überfall auf Polen gleichzusetzen ist.

Dass Russland sich durch die Nato-Osterweiterung bedroht fühlte und damit gegen die eindeutigen Zusagen an Gorbatschow verstieß, hat praktisch jeder hochrangige US-Diplomat, der mit Russland vertraut war, schon dreißig Jahre lang, also lange vor Putin, betont. Um nur eines von vielen Beispielen zu nennen: 2008, als er Botschafter in Russland war und Bush II die Ukraine leichtsinnigerweise zum Nato-Beitritt einlud, warnte der heutige CIA-Direktor William Burns, dass "der Beitritt der Ukraine zur Nato für die russische Elite (nicht nur für Putin) die klarste aller roten Linien ist".

Er fügte hinzu:

Ich habe noch niemanden gefunden, der den Beitritt der Ukraine zur Nato als etwas anderes betrachtet hat als einen direkte Angriff auf russische Interessen.

Ganz allgemein bezeichnete Burns die Nato-Ausweitung nach Osteuropa bestenfalls als verfrüht und schlimmstenfalls als unnötige Provokation. Sollte die Erweiterung die Ukraine einbeziehen, so warnte Burns, könne es keinen Zweifel geben, dass Putin hart zurückschlagen würde.

Burns wiederholte damit lediglich die allgemeine Auffassung auf höchster Regierungsebene, die bis in die frühen 90er Jahre zurückreicht. Der Verteidigungsminister von Bush II, Robert Gates, erkannte, dass "der Versuch, Georgien und die Ukraine in die Nato einzubinden, wirklich zu weit ginge und ... rücksichtslos ignoriert, was die Russen als ihre eigenen lebenswichtigen nationalen Interessen betrachten."

Die Warnungen aus informierten Regierungskreisen waren eindringlich und unmissverständlich. Ab der Präsidentschaft von Bill Clinton wurden sie von Washington zurückgewiesen. Und zwar bis zum heutigen Tag.

Diese Schlussfolgerung wird durch die vor kurzem veröffentlichte, umfassende Untersuchung der Washington Post über die Hintergründe der Invasion bestätigt. In ihrer Rezension der Studie stellen George Beebe und Anatol Lieven fest, dass

die Bemühungen der Biden-Administration, den Krieg gänzlich abzuwenden, ziemlich unzureichend erscheinen. Wie Außenminister Sergej Lawrow in den Wochen vor der Invasion sagte, ist für Russland "der wesentliche Schlüssel die Garantie, dass die Nato nicht nach Osten expandiert". Im Bericht der Post wird jedoch nirgends erwähnt, dass das Weiße Haus konkrete Kompromisse hinsichtlich der künftigen Aufnahme der Ukraine in die Nato in Erwägung zog.

Vielmehr, wie das Außenministerium bereits einräumte,

unternahmen die Vereinigten Staaten keine Anstrengungen, um auf eines der von Wladimir Putin am häufigsten geäußerten wichtigsten Sicherheitsanliegen einzugehen – die mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine.

Kurzum, die Provokationen wurden bis zur letzten Minute fortgesetzt. Sie beschränkten sich nicht darauf, die Verhandlungen zu unterminieren, sondern umfassten auch die Ausweitung des Vorhabens, die Ukraine in das Militärkommando der Nato zu integrieren und sie so zu einem De-Facto-Mitglied der Nato zu machen, wie es in US-Militärzeitschriften heißt.