Chomsky: In der Ukraine ist eine diplomatische Lösung immer noch möglich
Seite 3: Verbot von russischen Medien: "Außergewöhnlich"
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In diesem Kontext habe ich über das Verbot russischer Quellen wie RT gesprochen – eines Verbots, das eigentlich "außergewöhnlich" ist, wie Gresh zu Recht betont. Ich konnte aus Zeitgründen in dem Interview darauf nicht näher eingehen. Das direkte Verbot erinnerte mich aber an ein interessantes Thema, über das ich vor dreißig Jahren geschrieben hatte. In dem Artikel von damals ging es um Fälle, bei denen ich eine Reihe von bekannten Methoden, wie sie in freien Gesellschaften angewendet werden, um unliebsame Ideen und unerwünschter Fakten zu unterdrücken, untersuchte.
Ich ging auch auf akademische Studien ein, die im Auftrag der Regierung herauszufinden versuchten, woher die Russen in den 70er Jahren, also der späten Sowjetzeit vor Gorbatschow, ihre Nachrichten bezogen. Die Ergebnisse zeigten, dass trotz der strengen Zensur ein bemerkenswert hoher Prozentsatz der Russen Quellen wie die BBC und sogar den illegalen Samisdat nutzte (bezeichnete in der UdSSR und später auch in weiten Teilen des Ostblocks die Verbreitung von alternativer, nicht systemkonformer, zumeist verbotener "grauer" Literatur über nichtoffizielle Kanäle, Telepolis) und möglicherweise besser informiert war als die Amerikaner.
Ich habe mich seinerzeit bei russischen Emigranten erkundigt, die von ihren Erfahrungen berichteten, wie sie die ins Privatleben eingreifenden, aber nicht sehr effizienten Zensurmaßnahmen umgingen. Sie bestätigten im Wesentlichen das Bild der Regierungsstudie, obwohl sie der Meinung waren, dass die Zahlen zu hoch seien, möglicherweise, weil die Stichproben wegen der Konzentration auf Leningrad und Moskau verzerrt waren.
Veröffentlichungen von Medien des gegnerischen Lands zu verbieten, ist nicht nur unrechtmäßig, sondern auch schädlich. So wäre es für die Amerikaner wichtig gewesen, zu wissen, dass der russische Außenminister unmittelbar vor der Invasion betonte, dass "der Schlüssel zu allem die Garantie ist, dass die Nato nicht nach Osten in die Ukraine expandiert" – die erklärte rote Linie Russlands seit Jahrzehnten. Wäre man bestrebt gewesen, die schrecklichen Verbrechen zu vermeiden und eine bessere Welt zu schaffen, hätte man diese Möglichkeit ausloten können.
Dasselbe gilt für die Äußerungen der russischen Regierung, als die Invasion bereits im Gange war, z. B. Lawrows Erklärung vom 29. Mai:
Unsere Ziele sind: die Entmilitarisierung der Ukraine (auf ihrem Territorium sollten sich keine Waffen befinden, die Russland bedrohen); die Wiederherstellung der Rechte von Russen im Einklang mit der ukrainischen Verfassung (das Kiewer Regime hat sie durch die Verabschiedung russlandfeindlicher Gesetze verletzt) und internationalen Übereinkommen (an die die Ukraine gebunden ist); und die Entnazifizierung der Ukraine. Theorie und Praxis der Nazis und Neonazis haben das tägliche Leben in der Ukraine tief durchdrungen und sind in den Gesetzen des Landes kodifiziert.
Es könnte für die Amerikaner nützlich sein, diese Worte im Fernsehen hören zu können, zumindest für diejenigen Amerikaner, die ein Interesse daran haben, den Schrecken zu beenden, anstatt sich in den apokalyptischen Kampf zu stürzen, der aus dem Kaffeesatz heraufbeschworen wurde, um den "wütenden Bären" zu bändigen, bevor er uns alle verschlingt.
Die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine stagnieren seit dem Frühjahr. Offenbar will Russland den Frieden zu seinen eigenen Bedingungen erzwingen, während die Ukraine offenbar den Standpunkt vertritt, dass es keine Verhandlungen geben kann, solange sich Russlands Aussichten auf dem Schlachtfeld nicht verschlechtern. Sehen Sie in absehbarer Zeit ein Ende des Konflikts? Sind Verhandlungen zur Beendigung des Krieges eine Beschwichtigung, wie diejenigen behaupten, die gegen Friedensgespräche sind?
Noam Chomsky: Ob die Verhandlungen ins Stocken geraten sind, ist nicht ganz klar. Es wird wenig darüber berichtet, aber es scheint möglich, dass
Gespräche zur Beendigung des Krieges wieder auf der Tagesordnung stehen: Ein Treffen zwischen der Ukraine, der Türkei und den Vereinten Nationen zeigt, dass sich Kiew für Gespräche mit Moskau erwärmen könnte,
und dass "angesichts der russischen Gebietsgewinne" die Ukraine "ihren Widerstand gegen eine diplomatische Beendigung des Krieges aufgeweicht hat". Wenn dem so ist, liegt es an Putin zu zeigen, ob seine "erklärte Bereitschaft für Verhandlungen wirklich ein Bluff " oder ernsthaft ist.
Die Lage ist undurchsichtig. Es erinnert an die "afghanische Falle", als die USA einen Stellvertreterkrieg mit Russland "bis zum letzten Afghanen" führten, wie Cordovez und Harrison es in ihrer richtungweisenden Studie ausdrücken. Die Studie zeigt, wie es den Vereinten Nationen damals gelang – trotz der Bemühungen der USA, eine diplomatische Lösung zu verhindern –, einen russischen Abzug zu erreichen. Das war die Zeit, in der Jimmy Carters Nationaler Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski – der für sich in Anspruch nahm, die russische Invasion angestiftet zu haben –, das Endresultat begrüßte, auch wenn es um den Preis einiger "aufgeregter Muslime" erwirkt wurde.
Erleben wir heute etwas Ähnliches? Vielleicht.
Noam Chomsky: Zweifellos will Russland den Frieden zu seinen eigenen Bedingungen durchsetzen. Eine diplomatische Verhandlungslösung ist eine, die jede Seite akzeptieren muss, während sie auf einige der eigenen Forderungen verzichtet. Es gibt nur einen Weg, um herauszufinden, ob es Russland mit den Verhandlungen ernst ist: Man muss es versuchen. Es ist nichts verloren.
Was die Aussichten auf dem Schlachtfeld betrifft, so gibt es zuversichtliche sowie sich stark widersprechende Aussagen von Militärexperten. Ich verfüge nicht über die notwendige Expertise. Ich denke, man kann aber festhalten, dass sich der Nebel des Krieges nicht gelichtet hat. Wir wissen, welches die Position der USA ist, oder zumindest im letzten April war. Auf der von den USA organisierten Konferenz der Nato-Staaten und anderer militärischer Führer am Militärstützpunkt Ramstein hieß es:
Die Ukraine glaubt fest, dass sie gewinnen kann, und alle hier glauben das auch.
Ob das damals tatsächlich geglaubt wurde oder heute noch geglaubt wird, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wie man es herausfinden könnte.
Auf jeden Fall schätze ich persönlich die Worte von Jeremy Corbyn. Seine Aussagen wurden am Tag nach der Eröffnung der Kriegskonferenz in Ramstein veröffentlicht und haben dazu beigetragen, dass er buchstäblich aus der Labour-Partei ausgeschlossen wurde:
Es muss einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine geben, gefolgt von einem russischen Truppenabzug und einer Einigung zwischen Russland und der Ukraine über zukünftige Sicherheitsvereinbarungen. Alle Kriege enden in irgendeiner Form mit einer Verhandlung – warum also nicht jetzt?
Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".