Ukraine-Krieg: Droht Russland eine neue Krise in Moldawiens abtrünnigem Staat?

Seite 2: Transnistrien-Konflikt könnte auf Georgien überspringen

Die Zusammensetzung der moldauischen Regierungen schwankt zwischen prorussischen und prowestlichen Parteien. Teilweise wohl auch deshalb, weil die Moldauer gefühlsmäßig gegenüber dem benachbarten Rumänien gespalten sind. Sie vermuten, dass viele Menschen dort insgeheim überzeugt sind, dass die Republik Moldau eigentlich wieder zu Rumänien gehören sollte.

Zu Beginn der russischen Invasion in die Ukraine versuchten die russischen Streitkräfte, durch die Südukraine vorzudringen, was ihnen im Fall des Erfolgs den Anschluss an Transnistrien ermöglicht hätte. Sie erlitten jedoch eine vernichtende Niederlage bei der Stadt Wosnessensk. Anfang November 2022 zog sich Russland aus der Stadt Cherson zurück, seinem einzigen Brückenkopf westlich des Dnepr (Dnipro).

Sofern die ukrainische Armee nicht völlig zusammenbricht (was höchst unwahrscheinlich ist), ist es für Russland nun unmöglich, Transnistrien strategisch zu festigen.

Russland wird daher wohl keine neue Krise in einer Region heraufbeschwören wollen, die es nicht meistern kann. Auch ist die kleine russische Truppe in Transnistrien nicht mehr in der Lage, die Ukraine von Westen her zu bedrohen – auch wenn es derartige Warnungen aus der Ukraine gibt. Die dortigen Einheiten haben bis heute auch keine Anstalten dazu gemacht, selbst zu Beginn des Kriegs nicht, als die russischen Streitkräfte im Süden rasch vorzurücken schienen.

Andererseits könnten Kräfte sowohl in der Republik Moldau als auch in der Ukraine eine Chance darin sehen, die transnistrische Frage mit Gewalt zu lösen und damit sowohl Russland eine demütigende Niederlage zuzufügen als auch der Republik Moldau den Weg zur Nato-Mitgliedschaft zu ebnen.

Wenn es solche Ambitionen gibt, sollten sie von Washington nicht gefördert werden. Abgesehen von der Gefahr einer russischen Eskalation an anderer Stelle ist die gewaltsame Beilegung ethnischer Streitigkeiten etwas, was der Westen nicht unterstützen sollte.

Ein moldauischer oder ukrainischer Sieg in Transnistrien würde auch einen Präzedenzfall darstellen, dem die Georgier kaum widerstehen könnten, in ähnlicher Weise zu folgen. Dort geht es um die separatistischen Regionen Abchasien und Südossetien geht, die ebenfalls von Russland unterstützt werden, aber vom Rest der Welt nicht anerkannt worden sind.

Abchasien und Südossetien befinden sich jedoch in einer ganz anderen strategischen Lage als Transnistrien. Sie liegen an der Grenze zu Russland und können leicht von Russland aus verstärkt werden. Als Georgien im August 2008 das letzte Mal versuchte, Südossetien gewaltsam zurückzuerobern, war das Ergebnis eine militärische Katastrophe für Georgien.

Die russische Armee hätte mit Leichtigkeit die georgische Hauptstadt Tiflis einnehmen und die georgische Regierung stürzen können. Doch Putin ließ sich durch die persönliche Intervention des damaligen französischen Präsidenten Nicholas Sarkozy zum Einhalten bewegen. Angesichts der drastischen Verschlechterung der französisch-russischen Beziehungen im vergangenen Jahr ist es höchst unwahrscheinlich, dass ein Eingreifen von Präsident Emmanuel Macron heute die gleiche Wirkung hätte.

Die Vereinigten Staaten stünden dann vor der unangenehmen und gefährlichen Wahl, entweder tatenlos zuzusehen, wie ein Partnerland niedergedrückt wird, oder US-Truppen in Georgien gegen Russland einzusetzen – was die Biden-Regierung in der Ukraine unbedingt vermeiden wollte und bisher auch vermieden hat.

Vor diesem Hintergrund sollte Washington von jeglichen militärischen Schritten gegen Transnistrien Abstand nehmen und die Vereinten Nationen unterstützen, Verhandlungen über eine diplomatische Lösung des Transnistrien-Konflikts einzuleiten.

Die russischen Friedenstruppen sollten durch eine Truppe neutraler UN-Friedenstruppen ersetzt werden. Russland hat sich in der Vergangenheit dagegen gesträubt, könnte nun aber angesichts der extremen Verwundbarkeit seiner eigenen Friedenstruppen in der Region davon überzeugt werden, das zu akzeptieren.

Die Republik Moldau und Transnistrien sollten ermutigt werden, eine Konföderation zu bilden, in der Transnistrien volle Autonomie genießen würde. Der Preis für den Abzug der russischen Friedenstruppen wäre ein Neutralitätsvertrag nach dem Vorbild des Abkommens, mit dem die sowjetischen und westlichen Streitkräfte 1955 Österreich verließen.

Die Mitgliedschaft in der Nato (und in der russisch dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, CSTO) wäre ausgeschlossen, der Weg jedoch frei für die neu gegründete Konföderation, sich auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union zuzubewegen – ein sehr großer Anreiz für alle Menschen in der Region.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine und Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).