Ukraine-Krieg: Kann Deutschland als Friedenskraft belebt werden?

G7-Treffen mit Bundeskanzler Olaf Schulz in Brüssel im März, zugeschaltet ist auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Bild: Denzel / Bundesregierung

Lange haben deutsche Regierungen der Bevölkerung erzählt, dass eine Nato-Osterweiterung risikolos ist. Das paralysiert jetzt Friedensbemühungen und die politische Stabilität Deutschlands. Gibt es Auswege daraus?

Es gibt wachsende Befürchtungen, dass die Energieknappheit und die Preissteigerungen infolge der russischen Invasion in die Ukraine, der Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland und der russischen Kürzungen der Gaslieferungen zu einer Art "Deindustrialisierung" Europas führen könnten, da Fabriken mit hohem und unflexiblem Energiebedarf geschlossen oder in andere Teile der Welt verlagert werden.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft.

Diese Befürchtungen gelten insbesondere für Deutschland, das industrielle Kraftzentrum Europas, dem es bisher gelungen ist, den steilen Rückgang der Produktionskapazitäten, von dem andere europäische Länder in den letzten zwei Generationen betroffen waren, weitgehend zu vermeiden. Im Jahr 2021 lag der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am deutschen BIP bei fast 20 Prozent und damit doppelt so hoch wie in Frankreich.

Die Industrie ist nicht nur für die deutsche Wirtschaft entscheidend, sondern auch für die nationale Identität und die Stabilität des politischen Systems. Nach der katastrophalen Niederlage und Demütigung des Zweiten Weltkriegs war das "Wirtschaftswunder" der 1950er-Jahre, durch das die deutschen Industrien wiederbelebt wurden, von zentraler Bedeutung für die Wiederherstellung der Selbstachtung der Nation.

Der Anteil der Industrie an der deutschen Wirtschaft ist in den letzten Jahren zurückgegangen, aber ihre Vertreter bilden nach wie vor den Kern der politischen Basis der beiden größten politischen Parteien: die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer für die Sozialdemokraten (SPD) und für die Christdemokraten (CDU/CSU) der "Mittelstand", die selbständigen deutschen Mittelschichten, die häufig aus kleinen und mittleren Industrieunternehmen in Familienbesitz stammen.

Der Stimmenanteil von CDU und SPD ist in den letzten zwei Jahrzehnten bereits erheblich zurückgegangen, was zum Teil – wie auch anderswo im Westen – darauf zurückzuführen ist, dass sich die ehemaligen industriellen Klassen von den politischen Eliten im Stich gelassen fühlen. Sollte es in Deutschland zu einer so schnellen und radikalen Deindustrialisierung kommen, wie sie Großbritannien in den frühen 1980er-Jahren erlebte, würde das wahrscheinlich dazu führen, dass in Deutschland die Unterstützung für extremistische Parteien zunimmt.

Im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems und des Verhältniswahlrechts in Deutschland würde das zu einer radikalen Polarisierung führen und die Gefahr mit sich bringen, dass entweder das parlamentarische Regierungssystem faktisch nicht mehr funktioniert oder die Macht an die extreme Rechte übergeben wird, wie es gerade in Italien geschehen ist. An diesem Punkt würde die liberale Demokratie in Europa insgesamt in Trümmern liegen. Das wiederum würde die ideologischen Grundlagen der amerikanischen Weltmachtstellung erschüttern.

Angesichts dieser ziemlich offensichtlichen Gefahr – ganz abgesehen von der apokalyptischen Bedrohung durch einen Atomkrieg – wären frühere deutsche Regierungen wohl daran gegangen, ihr Möglichstes zu tun, um die russischen Gaslieferungen im Zuge einer Friedensregelung oder zumindest eines Waffenstillstands wiederherzustellen. Man hätte zwischen Washington, Moskau und Kiew vermittelt und eigene Friedensvorschläge unterbreitet.

Schließlich hatten die sozialdemokratischen Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt in den 1970er- und 1980er-Jahren die Ostpolitik initiiert – die Normalisierung der Beziehungen zwischen Westdeutschland und den kommunistischen Staaten Osteuropas, die von der christdemokratischen Regierung Helmut Kohls übernommen wurde. Und sowohl die SPD- als auch die CDU-Regierungen einigten sich darauf, eine neue Infrastruktur zu schaffen, um Westdeutschland und Westeuropa mit sowjetischem Erdgas zu versorgen. Diese Schritte wurden trotz des starken Widerstands aus Teilen der Washington-Elite unternommen.

Im Gegensatz dazu sind – seit eine russische Invasion in die Ukraine vor fast einem Jahr als Bedrohung auftauchte – keine ernsthaften Bemühungen von Deutschland unternommen worden, den Krieg zu verhindern oder ihn zu beenden. Die deutsche Bevölkerung ist beunruhigt über die wirtschaftlichen Folgen des Krieges. Aber die deutschen Medien, Denkfabriken und der größte Teil des politischen Establishments scheinen sich voll und ganz der Linie der USA und der Nato verschrieben zu haben, wonach Friedensgespräche allein Sache der Ukraine sind.

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