Ukraine-Krieg: Kann Deutschland als Friedenskraft belebt werden?
Seite 2: Über Täuschungen und politische Feigheit
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Ohne deutsche Führung gibt es jedoch keinerlei Möglichkeit für eine EU-Friedensinitiative. Die Franzosen werden nicht allein handeln, und die kleineren Länder sind nicht in der Lage, das zu tun. Bei einem Besuch in Berlin vor kurzem habe ich einige politische Denker getroffen, die die Idee einer deutschen Friedensinitiative unterstützen. Keiner von ihnen ist der Meinung, dass eine solche Initiative zum jetzigen Zeitpunkt tatsächlich zustande kommen könnte. Die allgemeine Einstellung ist, dass nur die unmittelbare Bedrohung durch einen Atomkrieg das deutsche Establishment zu irgendwelchen Maßnahmen bewegen könnte – und das könnte schon zu spät sein.
Wie ist dieser Wandel in Deutschland zu erklären? Und könnte sich die deutsche Haltung erneut ändern?
Ein wichtiger Teil der Erklärung ist natürlich das Entsetzen über die russische Invasion und die damit verbundenen Zerstörungen und Gräueltaten. Das kann jedoch nicht die einzige Erklärung sein. Schließlich fanden sowohl die Ostpolitik als auch der Aufbau des sowjetischen Gasversorgungsnetzes auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges statt, während ostdeutsche Grenzsoldaten auf Landsleute schossen, die nach West-Berlin zu fliehen versuchten, und während die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte und es besetzte.
Ein Teil der Erklärung für die Lähmung der deutschen Handlungsfähigkeit im Streben nach Frieden liegt darin, dass sich ein Narrativ durchgesetzt hat, das vom Großteil des Establishments akzeptiert wird und demzufolge frühere deutsche Regierungen sich für ihre Bemühungen um gute Beziehungen zu Moskau schämen sollten – insbesondere für die Art und Weise, wie sie das Land vom russischen Gas abhängig gemacht haben.
Dieses Narrativ wurde von Washington, Polen und anderen Osteuropäern sowie von den deutschen Grünen – die nicht an der Regierung beteiligt waren, als die Entscheidungen getroffen wurden – eifrig befördert. Sie sind der Meinung, dass die Anschuldigung ein guter Knüppel ist, mit dem man die anderen Parteien schlagen kann.
Es gibt eine einfache Erwiderung auf die Anschuldigung. Aber es ist eine, die das deutsche Establishment (tatsächlich das westliche Establishments insgesamt) nicht geben kann. Denn das würde bedeuten, dass man das Ausmaß, in dem die eigenen Bevölkerung getäuscht wurde, zugeben müsste.
Die Einrichtung sowjetischer Gaslieferungen nach Deutschland erfolgte offensichtlich vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Ausweitung der Nato nach Osteuropa. Führende Experten und ehemalige Beamte, darunter Helmut Schmidt in Deutschland, warnten davor, dass die Nato-Erweiterung wahrscheinlich zu einem Krieg führen würde.
Die deutsche Regierung, wie auch andere europäische Regierungen, erzählte ihrer Bevölkerung jedoch, dass die Nato-Erweiterung im Wesentlichen risikofrei sei. Hätte man die Risiken angesprochen und als Konsequenz eine radikale Reduzierung der russischen Gaslieferungen vorgeschlagen, was einen starken Anstieg der Energiepreise einschließt, wäre eine Mehrheit der Deutschen höchstwahrscheinlich entschieden gegen die Nato-Erweiterung gewesen.
Nach dem russisch-georgischen Krieg von 2008 (der unmittelbar auf die Erklärung der Nato folgte, Georgien und die Ukraine aufzunehmen) fragte ich ein ehemaliges Stabs-Mitglied des Nato-Generalsekretärs, ob das Militärbündnis über einen Notfallplan zur Verteidigung Georgiens im Falle eines Krieges verfügte. Er teilte mir mit, dass es nicht nur keinen Plan gäbe, sondern dass ein solcher nicht einmal diskutiert würde.
Als ich meine Ungläubigkeit zum Ausdruck brachte, erklärte er, dass, da der westlichen Öffentlichkeit versichert worden sei, eine Erweiterung bringe keine Kriegsgefahr mit sich, jeder Beamte in der Nato-Zentrale, der das behauptet hätte, als Erweiterungsgegner gebrandmarkt worden wäre. Seine Karriere hätte entsprechend gelitten.
Mehrere deutsche Regierungen schlugen den Weg des geringsten Widerstands ein. Sie waren sich dabei der Kriegsgefahr in der Ukraine bewusst, hatten aber Angst, von den deutschen Wählern Opfer und die Inkaufnahme von Risiken zu verlangen bzw. sich Washington zu widersetzen und Europa zu spalten, indem man sich entschlossen für einen Kompromiss mit Russland einsetzte.
So wurde die Abhängigkeit von billigem und reichlich vorhandenem russischem Gas fortgesetzt, während man sich gleichzeitig der US-Politik unterordnete, die, wie man aus Warnungen wusste, mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Konflikt führen würde.
Das bitter-ironische Ergebnis ist, dass verschiedene deutsche Politiken, die fest in politischer Feigheit begründet sind, Deutschland nun den größten Gefahren seit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs aussetzt.
Der Artikel von Anatol Lieven erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine und Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).
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