Ukraine: Liste mit "Informationsterroristen" natürlich keine "Terrorliste" (Update)

Behörde von Selenskyj führte auch SPD-Fraktionschef als "Informationsterroristen". Debatte flammt nach Monaten wieder auf. Halbherziges Dementi aus Kiew.

Nach mehreren Monaten ist eine Debatte über eine schwarze Liste ukrainischer Behörden wieder aufgeflammt, auf der auch deutsche Politiker und Wissenschaftler standen. Beim sogenannten Debattenkonvent der SPD in Berlin hatte der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, der ukrainischen Regierung vorgeworfen, ihn schon längerem auf eine „Terrorliste“ gesetzt zu haben. Ukrainische Diplomaten wiesen die Vorwürfe entschieden zurück, äußerten sich in der Sache aber vage – wie schon im Sommer.

"Ich bin schon irritiert gewesen, dass ich von der ukrainischen Regierung auf eine Terrorliste gesetzt wurde, mit der Begründung, ich setze mich für einen Waffenstillstand ein oder für die Möglichkeit, über lokale Waffenruhen auch in weitere diplomatische Schritte zu gehen", sagte Mützenich laut einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Der SPD-Fraktionsvorsitzende gab zugleich an, auf der Basis der Liste Drohungen erhalten zu haben und fügte an, es sei für ihn nicht einfach gewesen, damit umzugehen.

Aus Kiew wurde die Kritik Mützenichs umgehend zurückgewiesen. Der SPD-Fraktionschef im Deutschen Bundestag Rolf Mützenich habe den ukrainischen Behörden vorgehalten, ihn „für die Unterstützung von 'diplomatischen Bemühungen' im Krieg mit Russland auf eine Terroristenliste gesetzt zu haben“, schrieb Außenamtssprecher Oleh Nikolenko am Samstagabend auf Facebook, offenbar in maschineller Übersetzung:

Die ukrainische Regierung führt nicht die Terroristenliste. Soweit ich weiß, gibt es in der Ukraine kein Verfahren gegen Rolf Mutzenich. Alle Aussagen des deutschen Politikers zu mutmaßlichen Verfolgung durch ukrainische Behörden entsprechen nicht der Realität.

Oleh Nikolenko, Schreibweise wie im Original

Laut der dpa merkte Mützenich weiterhin an, wenn der Einsatz für einen Waffenstillstand ein Kriterium für eine solche Liste sei, dann müsse auch UN-Generalsekretär António Guterres auf solche Listen gesetzt werden. Problematisch sei die „Diskriminierung“ derjenigen, die sich wie er selbst für Diplomatie mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine einsetzen.

SPD-Genossen hatten schwarze Liste in Kiew nicht thematisiert

Vertreter der Bundesregierung hatten bei einem Besuch der Ukraine Mitte August davon abgesehen, gegenüber ihren Gesprächspartnern in Kiew eine schwarze Liste anzusprechen, auf der auch deutsche Wissenschaftler und Politiker geführt werden.

Das berichtete Telepolis damals unter Bezug auf eine Stellungnahme der Bundesregierung, die Telepolis exklusiv vorlag. Im August war die schwarze Liste ukrainischer Behörden bereits publik geworden, medial aber nur auf wenig Resonanz gestoßen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen aktualisierten Text. Telepolis hatte über die schwarze Liste ukrainischer Behörden bereits am 16.08.2022 berichtet.

Dabei war schon damals brisant: Die Aufstellung des "Zentrum für Desinformationsbekämpfung" (CCD) des Ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates führte auch Mützenich mit personenbezogenen Daten und Foto auf. CCD-Chef Andrij Schapowalow sprach in diesem Zusammenhang von "Informationsterroristen". Daraus leitete Mützenich nun offenbar seinen Vorwurf einer "Terrorliste" ab.

Zwei SPD-Kabinettsmitglieder hatten im August dennoch keinen Anlass gesehen, die Liste und die Indizierung gegenüber den Verantwortlichen in Kiew zu thematisieren.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) hatten Ende Juli die ukrainische Hauptstadt besucht. Zu diesem Zeitpunkt war die umstrittene schwarze Liste schon online und wurde im politischen Berlin auch diskutiert.

In der Antwort auf eine schriftliche Frage aus dem Bundestag heiß es dann aber, der Besuch Faesers und Heils in Kiew habe dem Ziel gedient, "sich einen eigenen Eindruck von der Lage in der Ukraine zu machen und Gespräche mit verschiedenen Vertretern der ukrainischen Regierung zu führen": "Dabei standen Unterstützungsbedarfe der Ukraine und konkrete Hilfsleistungen im Vordergrund."

Das bedeutet konkret: Faeser und Heil besprachen weitere Hilfs- und Geldleistungen für die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj, ohne die Indizierung von Mützenich, der Politikwissenschaftlern Christian Hacke und Johannes Varwick sowie der Publizistin Alice Schwarzer und weitere deutscher Bundesbürger auch nur anzusprechen.

Das CCD führte auf der schwarzen Liste 72 Persönlichkeiten auf, die sich zum Ukraine-Konflikt geäußert haben – allerdings nicht uneingeschränkt im Sinne der ukrainischen Regierung. Kiew wirft ihnen daher vor, "Narrative (zu) fördern, die mit der russischen Propaganda übereinstimmen". Das CCD ist eine nachgeordnete Struktur des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine. Dieser Rat wiederum steht unter direkter Weisung Selenskyjs.

Liste stillschweigend offline genommen, aber weiter einsehbar (mit Link)

Wenige deutsche Medien hatten im Sommer über das Thema berichtet. Der Linken-Außenpolitiker Andrej Hunko fragte nach – und erhielt die hier zitierte Antwort. Wenige Tage später war die Liste plötzlich nicht mehr zu erreichen. Hatte die Bundesregierung angesichts der zwar geringen, aber wachsenden Medienaufmerksamkeit hinter den Kulissen also doch noch vehementer reagiert?

Darauf weist eine weiter Passus ihrer Antwort hin. Darin erklärt die Bundesregierung, dass ihr "das im Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine eingerichtete Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation bekannt" sei: "Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kiew hat die ukrainische Regierung mehrfach aufgefordert, die öffentliche Listung ausländischer Persönlichkeiten zu unterbinden und wird dieses Thema weiter verfolgen."

Der Linken-Abgeordnete Hunko sah dennoch ein Verfehlen bei der Bundesregierung. Als die Liste des CCD Ende vergangener Woche noch online war, sagte er auf Telepolis-Anfrage:

Seit mehreren Jahren fordere ich von der jeweiligen Bundesregierung, auf die Löschung von Mirotworez, einer anderen Datenbank der angeblichen "Ukraine-Feinde", hinzuwirken. Offensichtlich hat die ukrainische Führung aus der Untätigkeit Deutschlands gelernt, dass auch dieses Mal keine ernsthaften Konsequenzen für sie kommen. Die Bundesregierung darf hier nicht mehr tatenlos zuschauen, wie Andersdenkende, unter anderem auch deutsche Staatsangehörige, mittlerweile ganz offiziell durch ukrainische Regierungsstellen diffamiert werden.

Andrej Hunko

Die Liste des CCD müsse sofort gelöscht werden, so Hunko damals weiter. Der Anspruch der Ukraine auf eine EU-Mitgliedschaft sei mit solchen Auflistungen von Akteuren aus Wissenschaft, Publizistik und Politik nicht vereinbar.

Auch wenn die alte URL der Liste einen 404-Statuscode angibt, also ins Leere, führt, sind die fahndungsgleichen Aufstellungen über das Internetarchiv nach wie vor einsehbar.

Liste weiter online einsehbar

Durch die verhaltene Reaktion der Bundesregierung und das geringe Medienecho – von den überregionalen Medien hatte sich lediglich die Berliner Zeitung der schwarzen Liste angenommen, ausführlicher berichtet hatte zudem das Portal Nachdenkseiten – bleibt das Thema politisch ungeklärt. So dient die im Netz nach wie vor kursierende Liste radikalen Akteure in der Ukraine weiterhin als Vorgabe für mögliche Aktionen gegen die gebrandmarkten Personen.

Der ehemalige UN-Waffeninspekteur Scott Ritter thematisierte diese Gefahr mit deutlichen Worten. Indem sein Name und Foto auf der Liste der ukrainischen Regierung auftauche, "wurde und wird mein persönliches und berufliches Leben durch die abschreckende Wirkung beeinträchtigt, weil ich als "russischer Propagandist" abgestempelt werde – nur weil ich das in der Verfassung der Vereinigten Staaten garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen habe". Ritter weiter:

Darüber hinaus hat die Ukraine in der Vergangenheit "schwarze Listen" dieser Art in "Tötungslisten" umgewandelt, auf denen diejenigen, die sich gegen die Politik der ukrainischen Regierung aussprechen, ermordet oder mit Gewalt bedroht werden.

Scott Ritter

Der Politologe Johannes Varwick, der zum Ukraine-Krieg auch schon bei Telepolis veröffentlicht hat, sah die Radikalisierung durch die schwarze Liste der Ukraine auch als Ergebnis einer medialen Diskursverengung: Man betreibe nicht zwingend das Geschäft Russlands oder verrate die Ukraine, wenn man eine Minderheitenposition vertrete. "Wenn man wegen einer Minderheitenposition auf einer schwarzen Liste landet und damit zum Abschuss freigegeben wird, endet jede sachliche Auseinandersetzung", schrieb Varwick in der Berliner Zeitung.

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