Raus aus der Eskalationsspirale mit Russland
Was der Westen jetzt tun kann
Genf, Brüssel, Wien – das waren auf den ersten Blick die diplomatischen Schauplätze, auf denen in dieser Woche über die europäische Sicherheitsordnung verhandelt wurde. Washington und Moskau sind aber die Orte, auf die es tatsächlich ankommen wird.
Zugleich ist es gut und sinnvoll, dass nun auf allen diplomatischen Kanälen miteinander gesprochen wird. Denn von der Idee einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung ist nicht viel übriggeblieben. Europa schien vielen als Hort der Stabilität und des Friedens in einer ansonsten chaotischen Welt. Diese Zeiten sind lange vorbei.
Die territoriale Integrität von Staaten wird von Russland infrage gestellt, Grenzen mit militärischer Gewalt verschoben, die Ost-Ukraine befindet sich im Kriegszustand und die Nato denkt aus nachvollziehbaren Gründen wieder in Kategorien der Bündnisverteidigung.
Rüstungsetats steigen, Rüstungskontrollverträge wie der Vertrag zum Verbot nuklearer Mittelstreckensysteme, der KSE-Vertrag oder der Vertrag über den offenen Himmel sind aufgekündigt, Kontakte zwischen Militärs beider Seiten kaum noch vorhanden, Militärmanöver auf beiden Seiten denken und üben wieder Kriegsszenarien und das politische Klima ist eisig. Kurzum: Wir befinden uns mitten in einer Eskalationsspirale und in einem klassischen Sicherheitsdilemma.
Sollen wir bei diesem fragilen Status quo stehen bleiben oder brauchen wir nicht einen wirklich neuen politischen Anlauf, um diese brisante Lage zu entschärfen? Worin liegen die tieferen Ursachen dieses Scheiterns und was können wir daraus lernen? Was ist denkbar und umsetzbar – und welche Schritte sind dafür erforderlich?
Die Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe gegenüber Nato-Staaten in Übungen sind inakzeptabel. Dennoch führen Empörung und formelhafte Verurteilungen nicht weiter. Vielmehr ist jetzt Realpolitik angezeigt.
Eine vorwiegend auf moralische Empörung und Abschreckung setzende Politik war und ist nicht erfolgreich. Wirtschaftlicher Druck und die Verschärfung von Sanktionen haben – dies zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre – Russland nicht zur Umkehr bewegen können.
Vielmehr sieht sich Russland aufgrund der westlichen Politik herausgefordert und sucht durch aggressives Auftreten die Anerkennung als Großmacht auf Augenhöhe mit den USA sowie die Wahrung seines Einflussbereiches im postsowjetischen Raum.
Diskutiert man mit Russen, so werden einem insbesondere die aus russischer Sicht klar gegen russische Interessen verstoßenden Punkte Kosovo-Krieg, Libyen-Einsatz, Erweiterung der Nato, US-amerikanische Raketenabwehrprogramme (die als Versuch der Unterminierung russischer Zweitschlagsfähigkeit verstanden werden) sowie Parteinahme für die Westorientierung der Ukraine und damit das vermeintliche Eindringen in direkte russische Einflusszonen vorgehalten.
All diese Punkte stellen sich in westlicher Perspektive vollkommen anders dar – aber wenn Außenpolitik bedeutet, mit den Augen der anderen zu sehen, dann haben wir die russische Perspektive zu wenig verstanden. Verstehen heißt nicht akzeptieren, aber unbeantwortet – und da haben die Russen einen konzeptionell nachvollziehbaren Punkt – bleibt vornehmlich die Frage des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum.
Nato seit 1991 um rund 1.000 Kilometer nach Osten vorgerückt
Sollten also "russische Einflusszonen" akzeptiert und etwa Staaten wie Georgien oder der Ukraine eine Nato-Beitrittsperspektive abgesprochen werden, weil Russland dadurch einen Einflussverlust befürchtet, oder muss nicht für alle Staaten das Prinzip der freien Bündniswahl gelten?
Die Ukraine-Krise, so formulierte es Wolfgang Ischinger, ist schlicht die Rechnung dafür, dass wir unser Klassenziel bei der Anbindung Russlands an den Westen und das westliche Bündnis nicht erreicht haben. Realistische Theoretiker warnten schon früh, dass die Nato mehr auf russische Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen hätte und brachten vielfach Verständnis für vermeintliche "Einkreisungsängste" durch eine Ausdehnung des Westens unter der Führung der USA auf.
Und in der Tat hat sich das Nato-Territorium seit 1990 um etwa 1.000 Kilometer in Richtung russische Grenze ausgedehnt, 14 Staaten sind der Nato seither beigetreten.
So argumentierte der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer, dass ein Dreierpakt des Westens aus Nato- und EU-Erweiterung sowie Demokratieförderung Nahrung für ein Feuer gewesen sei, das nur noch entzündet werden musste.
Sein deutscher Kollege Christian Hacke mahnte bereits früh, die Nato könne eine sicherheitspolitische Partnerschaft mit Russland und die Sicherheit der Nachbarstaaten nicht zugleich herstellen und sieht darin das zentrale strukturelle Dilemma der Erweiterung. Auch Herfried Münkler rät offen dazu, eine russische Einflusszone zu akzeptieren.
Die Realisten haben einen guten Punkt, und Russland hat frühzeitig deutlich gemacht, dass es die westliche Politik als massive Verletzung seiner Interessen versteht. Mit den kurz vor Weihnachten vorgelegten russischen Vorschlägen für einen neuen Sicherheitsvertrag ist die russische Sicht nochmals deutlich geworden.
Darauf blind einzugehen, würde tatsächlich bedeuten, das mit militärischer Gewalt geschaffene Denken in Einflusszonen zu akzeptieren und auf die Prinzipien der "Charta von Paris" aus dem Jahr 1990 (u. a. freie Bündniswahl, Beachtung der territorialen Integrität der Staaten) zu verzichten.
Das kann kein nachhaltiger Weg sein. Denn insbesondere das Prinzip der territorialen Integrität ist von strategischer Bedeutung für die Stabilität in Europa. Und es bleibt auch richtig, dass Russland seine Einflusszonen nicht mit Drohungen und Gewalt erfolgreich an sich binden sollte, sondern besser mit soft power, also Attraktivität seines eigenen Politik- und Wirtschaftsmodells – agieren sollte. Auf dieser Ebene ist Russland aber schwach. Russland ist insofern auf dem Irrweg und wird das eines Tages auch erkennen (müssen).
Die russischen Vorschläge aber blind zurückzuweisen wäre genauso falsch. Denn der Westen und die Nato können auf Basis der eigenen Stärke bzw. gesicherter Abschreckungsfähigkeit handeln und verhandeln, denn die militärischen Fähigkeiten (und auch die absoluten Ausgaben für Rüstung) sind trotz mancher Defizite um ein Vielfaches höher als die russischen.
Schmerzhafte Kompromisse sind notwendig
Die Beitrittsperspektive der Ukraine zur Nato vorerst auf Eis zu legen – und damit die eigenen Beschlüsse zu revidieren – würde insofern zwar wesentliche Prinzipien verletzten, aber wenn die Alternative eine Eskalationsspirale ist, aus der wir nicht sauber herauskommen, dann sollten wir das machen, was Diplomatie machen muss: schmerzhafte Kompromisse schmieden, Interessenausgleich vornehmen und versuchen, das Schlimmste zu verhindern.
Zudem sollte der Westen selbstkritisch sein und prüfen, ob er bei seiner Strategie seit 1990 von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist.
Das hieße im Übrigen nicht, die Ukraine (für die niemand im Westen militärisch kämpfen würde) hängenzulassen, sondern es heißt, dass wir mit der Ukraine, mit Russland, mit den USA und den europäischen Staaten darüber reden, welchen Platz die Ukraine und Russland in der europäischen Sicherheitslandschaft haben können.
Da liegen Ideen auf dem Tisch, etwa eine "Finnlandisierung" der Ukraine, also eine wie auch immer ausbuchstabierte Neutralität. Zugleich müssen wir darüber nachdenken, wie es gelingen kann, Russland wieder aus seinem konfrontativen antiwestlichem Kurs herauszuführen, ohne aber, wie es Herfried Münkler formuliert, uns als "Erzieher zur Demokratie" zu verstehen.
In ökonomischer Hinsicht zielten sie Sanktionen darauf ab, die ohnehin schon schwache russische Wirtschaft nicht noch weiter schwächen, sondern im Gegenteil der Austausch auf allen Ebenen intensiviert werden. Das, was früher einmal "Modernisierungspartnerschaft" genannt wurde, sollte reaktiviert werden, trotz der schlechten sicherheitspolitischen und auch innenpolitischen Rahmenbedingungen dafür in Russland.
All dies klingt heute wie ein Griff in die Kiste realitätsferner Utopien. Doch bei dieser Erkenntnis stehenzubleiben, bringt nicht die notwendige politische Dynamik, um aus der Eskalationsspirale herauszukommen.
Die bestehenden Gremien – und insbesondere der Nato-Russland-Rat – leiden darunter, dass sie entpolitisiert sind und allenfalls den Status quo verwalten. Deshalb sind radikalere Schritte und die Infragestellung der bisher gültigen Prinzipien notwendig.
Dies wird auch in der US-amerikanischen Debatte inzwischen vertreten. So schreiben etwa Thomas Graham und Rajan Menon im Magazin Politico:
Der Westen kann Russland nur dann konstruktiv einbinden, wenn er zeigt, dass er seine Bedenken ernst nimmt und sich für Fortschritte einsetzt - was nicht dasselbe ist wie die Erfüllung aller Forderungen Moskaus.
Im Anschluss an die noch sehr unverbindlichen Gespräche in dieser Woche sollte über eine hochrangige Konferenz unter der Schirmherrschaft der Staats- und Regierungschefs im Rahmen der OSZE nachgedacht werden, die ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur berät.
Solang diese Konferenz tagt – und dafür wäre realistischerweise ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren anzusetzen – sollte zumindest bei Militärmanövern vollständige beiderseitige Transparenz vereinbart und die Sanktionen schrittweise reduziert werden. Für die Dauer der Verhandlungen sollte zudem ein "Freeze" bei der Frage der Nato-Erweiterung vereinbart werden.
Nach einem solchen klaren politischen Signal des Westens müssen dann beharrlich Themen identifiziert werden, an denen beide Seiten gleichermaßen Interesse haben.
Rüstungskontrolle und Vermeidung von unbeabsichtigter Eskalation sind trotz aller Schwierigkeiten Beispiele dafür. Es sollte trotz der derzeitigen Lage zudem über weitergehende ökonomische Kooperationsangebote nachgedacht werden.
Der Rückgang der Bedeutung fossiler Energieträger, von deren Export die russische Wirtschaft stark abhängt, birgt die Gefahr wachsender wirtschaftlicher Risiken für Russland, die wiederum politische Instabilitäten bedingen könnten.
Wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte mittelfristig einen wichtigen Beitrag zu europäischer Stabilität leisten und zudem ein Anreiz für Russland zur Rückkehr zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen sein.
Voraussetzung ist aber die Anerkennung der legitimen Sicherheitsinteressen beider Seiten. Es müssen mithin Win-win-Situationen geschaffen werden, die die derzeitige Blockade überwinden. Der Schlüssel dafür liegt nicht allein – wie nahezu alle westlichen Kommentare unterstellen – in Moskau, sondern auch in Washington, Berlin und Brüssel.
Russland eine tragfähige Brücke zu bauen, wäre weder unverantwortliches Appeasement noch würde es einen Verzicht auf die Einforderung grundlegender in der OSZE vereinbarter Standards bedeuten, sondern wäre ein Gebot politischer Klugheit.
Das mag für viele schmerzlich sein und auch nicht der reinen Lehre entsprechen. Aber jede Alternative ist deutlich schlechter. Notwendig ist jetzt eine interessengeleitete und nüchterne Politik – und daran mangelt es in der aktuellen Debatte.
Johannes Varwick ist Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle und Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.