Umbau des Landes im Stillstand
Mit der Corona-Soforthilfe in der Warteschlange und viele, scheinbar nahe liegende, jedoch komplett verrückte Ideen über das, was geschieht
Der Umbau des Landes geht in Windeseile voran. Dafür ist der totale Stillstand Grundvoraussetzung. Ich benutze "total" nach Grimms Wörterbuch im Sinne von "(durch Schuldenmachen) total ruiniert" und "rettungslos verloren". Der totale Stillstand ist das Vorspiel für das, was in der Börsensprache des 19. Jahrhunderts großer "Schlachttag" genannt wurde. Gemeint waren damit die "Amateure". Für sie war es am Schlachttag vorbei. Heute könnte man analog sagen: die Kleinunternehmer.
Viele Themen, die vor der Seuche unser Leben bestimmt haben und immer noch existenziell drängen, wie die Mietenfrage, sind wie vom Tisch gefegt. Man darf zwar wegen Seuche Miete schuldig bleiben bis Dezember. Aber wer hat am Jahresende mehr Geld, wenn bis dahin die Wirtschaft vor die Hunde geht?
Fast völliger Stillstand auch an der Demo-Front. Unsere Freunde von "200 Häuser" Berlin denken über neue Formen des Widerstands nach. Was geht noch unter dem Vorzeichen des Distanzgebotes? "Kleinst-Aktion" und "online-Plenum" waren heute die letzten beiden Email-Betreffs. Wir sind alle völlig separiert. Die Schlagkraft ist geschwächt. Nichts ist "viral gegangen".
Die geplanten Aktionen erinnern mich ein wenig an den Widerstand im Irak. Man muss nun auf seinem eigenen Balkon demonstrieren und zur falschen Zeit das Richtige (das, was der Staat sagt) rufen, damit man von der Bevölkerung verstanden, aber nicht sofort von der Polizei einkassiert wird. Mögen die Balkone zusammenwachsen, wo sie zusammen gehören.
Eigentlich ist es auch nicht der Umbau des Landes. Es ist der Umbau unserer Gehirne, der eilig voranschreitet. Wir nehmen Dinge plötzlich nicht mehr wahr, nachdem unsere Aufmerksamkeit durch Bling-Bläng-Begriffe wie "Covid 19" geschlachtet wurde.
Ich gebe ein Beispiel. Risikokapital befeuert Ideen, die unseren Alltag total verändern. Nicht nur die kleinen, mit Crisper rumschnippelnden Erfinder-Buden rund um Wuhan und anderswo auf der Welt, die Viren als "Vektoren" benutzen, um genetische Medizin in den Zellkern der Patienten zu befördern, erhalten Risikokapital. Auch Leute mit Ideen, die viel näher am Alltag dran sind. Ideen, die viel unspektakulärer klingen als "genetische Medizin".
Lieferservice ist so eine Idee, die mit spekulativem Kapital ganz schnell ganz groß geworden ist - und Traditionsbranchen wegfegt. Die Leute essen auch ohne Corona offenbar lieber allein zu Haus als mit anderen im Restaurant. Jetzt geht es gar nicht mehr anders.
Wir denken jetzt "ding-dong" und sind so bestens präpariert für die nächste Isolation in der eigenen Wohnung. Denn der Durstexpress ist auch in "schweren Zeiten eine tragende Kraft". "Ding Dong. Du Stillstand. Wir Bewegung". Der Späti macht dicht. Die Kneipe schließt. Das "Ding Dong"-System sucht täglich neue Fahrer.
Über die Arbeitsbedingungen möchte man nicht nachdenken, geschweige denn die gewerkschaftliche Organisation, die Tarife, den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Die Epsilon-Minus Menschen dieser "Schönen Neuen Welt" werden nicht umsonst "juicer" genannt: Sie kommen nachts an die Oberfläche und bringen den Saft für ihre Idole, die Alpha-Plus-Kontrolleure.
Kürzlich berichtete ntv "Jeff Bezos macht zehn Milliarden Euro in zehn Tagen" und stellt schlagartig 100.000 neue Mitarbeiter ein. Wir Klopapierengpass. Ding Dong. Kasse klingelt. Bezos kümmert sich um seine erkrankten Paketzusteller. Noch einmal ntv: "Der 'Amazon Relief Fund' ('Linderungs-Fonds') hat ein Gesamtvolumen von spärlichen 25 Millionen Dollar. Das hat Bezos in einer halben Stunde verdient."
Soforthilfe
Ein zweites Beispiel. Auch hier gehts um "Verdienst" in einer knappen "halbe Stunde". Totaler Stillstand herrschte am vergangenen Freitagnachmittag ab 15.45 Uhr in der digitalen "Corona Soforthilfe"-Schlange der Berliner IBB.
Die Bank, die Zuschüsse ausreicht für freiberuflich tätige Menschen, die durch die Krankheit in einen "Liquiditätsengpass" gekommen sind, der nachweislich erst am 11. März 2020 begonnen hat, können hier unbürokratisch Geld geschenkt bekommen. Dies, ohne dafür dicht an dicht anstehen zu müssen. Ohne Gefahr, sich im Gedränge durch "Superspreader" zu infizieren. Übrigens: Superspreader ist mein Tipp für das Unwort des Jahres 2020.
Für das smarte Schlangenmanagement hat die IBB Software von queue-it.com installiert. Das Motto der Firma: "Say goodbye to online crashes. Control online traffic peaks and treat your visitors fairly." Warum stand dann die Schlange still? Ist das etwa fair?
Nun, die Bank hatte nicht damit gerechnet, dass wirklich 250.000 Menschen am ersten Tag diesen Zuschuss abfragen. Einen sicher nicht geringen Teil der Schlange dürften Künstler ausgemacht haben. Denn am 26. März 2020 hatte der Berufsverband der Bildenden Künstler Berlins, BBK, die Informationen über das "Soforthilfeprogramm 2" des Landes in die Runde gesendet. Für 60.000 FreiberuflerInnen stünden je 5.000,00 Euro zur Verfügung, zunächst einmal 100 Millionen Euro.
Wer rechnen kann, wusste, dass man unter den ersten 20.000 Antragstellern sein muss, wenn es wirklich finanziell drückt. Für 12 Uhr war die Freigabe der Website annonciert. Um 12 Uhr hieß es: 13 Uhr. Um 13.25 Uhr waren 20.000 FreiberuflerInnen in der Warteschlange. Damit war der "Kreditrahmen für bisher gesunde Unternehmen" (IBB) innerhalb von 25 Minuten erschöpft - ebenso erschöpft, wie die fiebernd auf den Zuschuss Wartenden. Ein Tempo wie beim Hi-Speed-Trading. Nur wer als prekär lebender Künstler über Parallelcomputing-Kapazitäten verfügt, hat eine Chance.
Unter dem Reiter "Geduld haben!" beruhigte der BBK seine Mitglieder - wie sich zeigt: irrigerweise: "Insgesamt stehen 300 Millionen Euro zur Verfügung." In nur drei Tagen sollte also etwa das Zehnfache des regelmäßigen Jahresetat der Kulturstiftung des Bundes (35 Millionen Euro) in die Szene gegossen werden - und da wundern sich die Banker der IBB, dass das Angebot angenommen wird.
Nun aber sagt die Pressemitteilung der Bank: "Deshalb setzen wir bis auf Weiteres die Annahme weiterer Anträge aus, um mit den Senatsverwaltungen für Wirtschaft, Energie und Betriebe sowie Finanzen das weitere Vorgehen zu beraten."
Also wieder totaler Stillstand - ein Modus übrigens, in dem die meisten Künstler der freien Szene ohnehin schon seit etwa 2015 verharren. Sie bringen sich mit Mikrojobs über die Runden und dürfen sich derweil auf Schließungspartys der freien Galerieszene amüsieren. "Bisher gesund" war das ganze "Betriebssystem Kunst" sicher nicht. Und deswegen gibt es jetzt wieder nichts. Damit man sich gar nicht erst daran gewöhnt, dass es besser wird. Corona-Soforthilfe ist schließlich kein Begrüßungsgeld.
Bundesweit ist derzeit nur eine Bewegung erkennbar. Überall wandelte sich am Ende letzter Woche mit Freischaltung der Antragsformulare der Stillstand zum "Ansturm". Jedes Bundesland hat sich sein besonderes Verfahren ausgedacht. Aber offenbar hatte niemand zuvor die Anzahl empfangsberechtigter Einwohner gezählt.
In Niedersachsen müssen Antragsteller ihre Bilanz von Januar bis März 2019 einer aktuellen Bilanz von Januar bis zum 12. März 2020 gegenüberstellen. Sie bekommen nur Geld, wenn ein Einbruch von mehr als 50% zum Pandemie-Stichtag nachweisbar ist.
Die Niedersachsen hatten sich noch etwas Tolles ausgedacht. Jeder Antragsteller sollte sich im Kundenportal der N-Bank registrieren, um dort Schritt für Schritt zum Ziel geführt zu werden. Der Server der N-Bank brach am ersten Tag zusammen.
Wenn auch die Digitalisierung des "Kundenverkehrs" mit der heißen Nadel gestrickt schien, so gab es doch ein Regelpaket dazu wie für einen ausgewachsenen EU-Antrag. Man konnte den Verdacht nicht loswerden, dass die Dokumente über Jahre vorbereitet worden waren.
In Brandenburg ist dagegen alles extrem Nutzer-freundlich. Man lädt sich ein PDF herunter, füllt es digital aus. Dann drucken, unterzeichnen, einsacken und ab per Email.
Jetzt sind wir alle wieder in der Warteschleife. Wird etwas kommen? Oder werden die Geldtransporter in Quarantäne genommen - damit nicht alle alles auf einmal ausgeben?
Am allertotalsten ist derzeit der Stillstand in Frankreich. Bei uns im Dorf, dem wir in letzter Minute entronnen sind (siehe Bis Basel ist alles dicht und Haben Sie schon mal probiert, eine Minicroissant mit Vinylhandschuhen zu essen?) dürfen die Leute ihre Häuser nicht mehr verlassen: nur 1 Stunde täglich zum Einkaufen.
Vorher muss sich jeder Ausgangswillige eine "Attestation de Déplacement Dérogatoire" im Netz herunterladen, ausfüllen und immer bei sich tragen, beim Joggen, Gassi gehen, auf dem Weg zum Bäcker. Die "Bescheinigung über das Abweichen von der Fortbewegungsregel" - so könnte man das dreiteilige Wortungetüm verstehen, das über dem Passierschein thront - ist Teil eines bürokratischen Monstrums, das nun 75 Jahre ungestört wachsen und gedeihen konnte und durch das der Macronsche Etatismus regiert.
Dort, in Frankreich, sind alle vollkommen paralysiert. Eine Freundin schreibt: "Es ist sehr schwer hier in Frankreich. Unsere Familien sind getrennt. Wir kennen das Ende des Ausnahmezustands nicht."
Theorien gegen Ideen?
Der Stillstand ist so umfassend wie bei einem Generalstreik. Der Kapitalismus hat immer seine letzten Reserven mobilisiert, damit es nicht zum Generalstreik kommt. Nun verfügen weltweit Regierungen einen vergleichbaren Zustand. Warum?
Es schwirren genau deswegen im Moment alle möglichen Theorien herum. Warum stehen die offiziellen Zahlen in so deutlichem Widerspruch zu der drakonischen Maßnahme des verordneten Stillstands? Was soll erreicht werden?
Die einen sagen, ohne die Maßnahmen hätten wir schon die Katastrophe. Andere sagen, man kann nicht viel mehr schaffen, als ein wenig runter zu bremsen, damit nicht alle gleichzeitig ins Krankenhaus kommen. Bis heute sind 28.000 Intensivbetten frei geräumt.
Es wird ständig und überall von "Zwangsimpfung" geredet, die es natürlich nicht geben wird. Aber vielleicht wird jeder, der sich nicht freiwillig impfen lässt, als "Gefährder" registriert? So will es offenbar gern unser neuer Gesundheits-Kanzler Spahn.
Noch andere - und immer mehr - sagen: Die Zahlen sind falsch. Es sterben soundsoviele sowieso per Tag und da liegen wir nicht drüber.
Aus der Summe dieser widersprüchlichen Lagen ergeben sich viele, scheinbar nahe liegende, jedoch komplett verrückte Ideen:
- alles nur, damit Bill Gates endlich seine langgepflegte Idee der Weltregierung mit ihm als Oberpräsidenten umsetzen kann
- alles nur, damit die Chinesen etwas eher als der paralysierte Westen wieder schlagkräftig sind und auch noch den Rest der Welt kaufen können
- alles nur, damit der Finanzkapitalismus seine bitter benötigte Wertevernichtung erlebt und danach noch dicker auftrumpfen, noch mehr zu "sich" umschichten kann.
Undsoweiter.
Ich denke, alle oben genannten wahnwitzigen Analysen sind irgendwie richtig. Aber nicht als Auslöser, sondern als Effekte. Wir wissen seit Deleuze/Guattari um die prinzipielle Schizophrenie des Systems. Alles, was mit dem ganz großen Geld zu tun hat, IST eine Verschwörung. Denn es gibt kein Naturgesetz des Geldes, keine Wissenschaft dahinter. Alles basiert auf Absprachen. G20. Notenbank. EZB. Börse.
Niemand wirft Amazon vor, Corona erfunden zu haben, nur weil sie oberfett am Klopapier-Engpass verdienen. Es drängt sich allerdings der Verdacht auf, die Verlagerung des Toilettenwarenverkaufs vom Einzelhandel ins plattformkapitalistische Auslieferungslager sei politisch gewollt.
Durch die "Krise" verschärfen und beschleunigen sich einfach die eh schon auf dem Weg befindlichen Veränderungen. Dafür kursiert der Begriff "Brandbeschleuniger". Die Krankheit als Turbo-Booster.
Die deutlich merkbaren Veränderungen besagen für den einzelnen Menschen: Bleib zu Hause und verhalte dich still. Für den Konzern bedeuten sie: Es brummt. Ding Dong. Ding Dong. Ding Dong.
Ich denke daher, die wichtigste Aufgabe für die Bürger des Landes ist nicht zu gucken, wie die "notorischen Schweinehunde" aus der Krise Profit schlagen. Sondern aus der Paralyse heraus zu finden.
Wir müssen schauen, wie wir verhindern, dass nach dem Ende der "Krise" der Einzelhandel komplett tot ist, das Unterhaltungs-Geschäft (Kino, Musik, Kultur) nur noch von börsennotierten Unternehmen betrieben wird und nicht mehr von den vielen kleinen Krautern. Wir müssen verdammt aufpassen, dass nicht jedermann bald mit einem trackbaren Marker rumläuft, um seine Unschuld beweisen zu können und dass nicht das Bargeld als "Überträger" blitzschnell abgeschafft wird.
So in etwa wie Naomi Klein das sagt: Ideen liegen genügend herum. Um sie aufzunehmen, bräuchte man eigentlich "geistige Soforthilfe" - vielleicht nicht unbedingt aus Bundesmitteln. Sonst verödet man noch in der Warteschlange.
Kämpfen wir erstmal dafür, dass jetzt nicht die falschen Ideen obsiegen.
Klong!
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