Unfreiwillig transparent

Laufend gelangen interne Memos aus dem Machtzentrum der britischen Regierung an die Öffentlichkeit

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Eine Serie von internen Memos aus dem Kabinett Blair fand in den letzten Wochen den Weg an die Öffentlichkeit. Die von hochrangigen Regierungsmitgliedern, darunter auch der Premierminister selbst, verfassten Rundschreiben handeln hauptsächlich von der richtigen Präsentation der Regierungspolitik und geben das Bild einer Regierung in Panik. New Labour fürchtet den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren und nicht mehr im Einklang mit den "Bauchgefühlen" der Nation zu sein.

Die letzte Veröffentlichung heute eines internen Memos schlägt sich auf der Titelseite von The Sun wieder

Zunächst vermutete man einen Maulwurf im Kabinett Blair. Ein Angestellter von Downing Street Nr.10 solle den Tories, der Konservativen Partei, die imageschädigenden Unterlagen zugespielt haben. Da die Memos meist per Email und Fax an einen kleinen, erlesenen Verteiler versandt werden, tauchte schnell die Vermutung auf, ein Hacker würde routinemäßig die Botschaften aus der Kommandozentrale Tony Blairs abfangen. Zyniker vermuten jedoch noch eine dritte Variante. Tony Blair hatte vor einiger Zeit selbst zugegeben, im Umgang mit Computern nicht sehr vertraut zu sein. Da der Premierminister aber immerhin so weit geht, selbst Emails zu verschicken, könne es doch leicht vorkommen, dass er versehentlich den "Send-Button" etwas verfrüht angeklickt hat, während zugleich die falsche Verteilerliste eingestellt ist. Wer weiß schließlich, welches System Downing Street verwendet. Sollte es zufällig Outlook Express sein, dann könnte auch ein ILOVEYOU-ähnlicher Wurm in Regierungscomputern sitzen.

Schadenfreude und Zynismus waren zunächst selbst bei eher regierungsfreundlichen Presseorganen weit verbreitet. Kurz vor und nach der Wahl 1997 hatte New Labour "Transparenz" zu einem Eckpunkt ihrer Regierungspolitik erklärt. Doch mit Gesetzesvorlagen wie dem Freedom of Information Act, der die Informationsfreiheit eher beschneidet als sie zu erweitern, und mit dem RIP-Gesetz über die Überwachungsbefugnisse der Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste, steuert New Labour in der Realität genau den entgegengesetzten Kurs. Schnell hatten sich die New-Labour-Häuptlinge ein Image erworben, "control freaks" zu sein, die, umgeben von nicht demokratisch gewählten Beratern, PR-Gurus und "Spin Doctors", einen undurchdringlichen inneren Zirkel der Macht bilden. Weder das Parlament, noch die Öffentlichkeit und nichteinmal alle Regierungsmitglieder wissen Bescheid, an welchen geheimen Strategien in diesem Kreis gefeilt wird. Als die ersten der sogenannten "Leaks" in konservativen Murdoch-Zeitungen The Times und The Sun erschienen, war daher die verbreitete Empfindung "recht geschiehts ihnen."

Eine Serie ungewollter Enthüllungen

Am 15.Mai 2000 öffnete sich erstmals Pandoras Emailbüchse: Eine Botschaft von der Privatsekretärin des Premierministerbüros, Claire Summers, ging an alle Regierungsstellen und forderte "Killerfakten", die es Tony Blair leichter machen würden, den Konservativen Parteiführer William Hague im Parlament herunterzuputzen. Der Schaden war noch relativ gering.

Am 28.Mai ging eine Nachricht von dem Meinungsumfragenspezialisten Philip Gould, der auch als einer der Chefarchitekten des Third Way angesehen wird, an Alistair Campbell, den persönlichen Pressesprecher des Premierministers. Gould verlieh darin seiner Befürchtung Ausdruck, dass William Hague mit seinen extrem rechten Ansichten über Asylbewerber und Kriminalität für die "schweigende moralische Mehrheit" steht und in Meinungsumfragen unter Fokusgruppen an Boden gewinnt. Eine am 11.Juni durchgesickerte Nachricht, wieder von Gould an Campbell, vertiefte den Schaden noch erheblich. Darin gab Gould seine Einschätzung wieder, dass es Tony Blair "an Überzeugung mangelt", dass er "nur an "spin" und Präsentation interessiert" sei und "Dinge sage, nur um Leute zufriedenzustellen, aber nicht weil er selbst daran glaubt".

In zwei weiteren durchgesickerten Memos am 3. und am 4.Juli ging es um die Frage des britischen Beitritts zum Euro und drohende wirtschaftliche Schäden, falls das Vereinigte Königreich nicht bald ein deutliches Signal gibt, der Währungsunion beitreten zu wollen.

Am 15. Juli stand wieder die Thematik der Präsentation der Regierungspolitik im Mittelpunkt. Die BBC war im Begriff, einen Insiderbericht vom Geschehen in Downing Street zu filmen. Die Privatsekretärin Tony Blairs, Anji Hunter, empfahl Ministern und hochrangigen Beamten, sich als zuversichtlich und schnell handelnde Problemlöser mit einem Anflug von "Bonhomie" zu präsentieren. Zugleich wurde klargemacht, dass der BBC wichtige Meetings und Einblicke in innere Machtzirkel nur vorgespielt werden sollen.

Die Bombe platzte schließlich mit dem vom Premierminister selbst verfassten Memo, das am 15.Juli an die Öffentlichkeit gelangte. Mit diesem schon vor etwa zwei Monaten verfassten Memo gab Blair unfreiwillig zu erkennen, dass der Vorwurf, es gehe ihm nur um "Spin" (die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Pressesprecher, sogenannte "Spin Doctors") und Präsentation, nicht so weit hergeholt ist. Blair warnte seine engsten Mitarbeiter, dass die Regierung als nicht im Einklang mit den "gut instincts" (frei übersetzt: Bauchgefühlen) der Bevölkerung gesehen werde. Um dem Abhilfe zu schaffen, sollte man sich schnell eine neue Maßnahme einfallen lassen, irgendetwas Spektakuläres im Zusammenhang von Law and Order, um zu zeigen, dass New Labour "tough on crime" sein könne. Und er, der Premierminister, solle möglichst eng mit dieser Maßnahme assoziiert werden.

Populistische Selbstfaller

Die Veröffentlichung dieser Bloßstellung des Ho-ruck-Populismus des Premierministers hätte, aus Sicht der Opposition, zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. In der selben Woche hatte Tony Blair eine unausgegorene und populistische Maßnahme gegen rowdyhaftes Verhalten in der Öffentlichkeit gefordert. Offensichtlich als Reaktion auf die Probleme mit britischen Hooligans bei den europäischen Fussballmeisterschaften schlug er vor, dass betrunkene Randalierer auf der Stelle mit 100 Pfund abgestraft werden sollten. Erfahrene Polizeibemte mussten ihn darauf hinweisen, dass diese Maßnahme praktisch kaum durchführbar ist. Der Gedanke, betrunkenen Randalierern 100 Pfund (ca. 300 DM) abzuknöpfen oder sie zum nächsten Geldautomarten zu eskortieren, wo sie die Summe brav beheben, erschien den Bobbies mehr als nur etwas weltfremd.

Man könnte schon beinahe an eine höhere Gerechtigkeit glauben, denn in der selben Woche ereignete sich noch eine andere Peinlichkeit, diesmal im engeren Familienkreis Blair. Sohn Euan, 16, war nach einer Schulzeugnisfeier so betrunken, dass er hilflos und kotzend am Leicester Square aufgefunden wurde. Ganz am Anfang der Regierungsperiode hatte sich Tony Blair für den Vorschlag stark gemacht, dass Eltern, die ihre Minderjährigen nicht im Zaum halten können, zwangsweise Elternschulungskurse besuchen müssen und, wenn auch das zu nichts führt, im Extremfall für das Fehlverhalten ihrer Sprösslinge sogar selbst ins Gefängnis gehen sollten. Das allerdings blieb Tony Blair zunächst noch erspart.

Eine orchestrierte Kampagne?

Noch arg gebeutelt und geschüttelt von diesen Ereignissen, glaubte die Regierung heute wieder die Initiative an sich reißen zu können, und zwar mit der Veröffentlichung der nur alle drei Jahre stattfindenden "spending review", einer vorausschauenden Haushaltsplanung für die nächsten Jahre. Chancellor (Finanzminister) Gordon Brown verkündete eine reale Ausgabensteigerung von 43 Milliarden Pfund (ca. 130 Milliarden DM), mit denen vor allem in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Transport dringend benötigte Verbesserungen geschaffen werden sollten. Bei weiterhin günstiger Wirtschaftslage sollte endlich auch etwas davon bei der breiten Bevölkerung ankommen, die unter einem miserablem öffentlichen Schul- und Gesundheitssystem leidet, ebenso wie unter den sprichwörtlich schlechten, öffentlichen Transportmitteln. Spürbare Verbesserungen in diesen Bereichen sollten den Gewinn der wahrscheinlich im nächsten Jahr stattfindenden Parlamentswahlen für New Labour sichern.

Doch schon wieder erschien ein Memo des Beraters Philip Gould in The Times und The Sun. Dieses war wie schon früher durchgesickerte Rundschreiben bereits vor etwa 2 Monaten geschrieben worden, und jemand hatte es verstanden, es genau an diesem Tag an die Öffentlichkeit zu bringen, an dem es die Aufmerksamkeit von Gordon Browns deftigem Wahlzuckerl weg und auf New Labours Imageprobleme hinlenken würde.

Das mit dem Titel "Getting the Right place in History and not the Wrong One" versehene Memorandum zeichnet ein düsteres Bild über die Wahrnehmung der Regierungspolitik in der Öffentlichkeit, die im Gesundheitsbereich, bei der Familienpolitik und bei den "patriotischen Instinkten" versagt habe:

"I think our situation is serious. There is absolutely no room for complacency. Perhaps worst of all . . . the New Labour brand has been badly contaminated. It is the object of constant criticism, and even worse, ridicule. Undermined by a combination of spin, lack of conviction, and apparently lack of integrity, manifested by the [London] Mayor selection process."

Verbunden mit der Warnung, dass der Gewinn der nächsten Wahlen keineswegs so sicher sei, wie es lange Zeit ausgesehen hatte, wurde dieses Memo nur an vier Personen verschickt: den Premierminister, Finanzminister Gordon Brown, Nordirland-Minister und Wahlkampfstratege Peter Mandelson und Alastair Campbell, der höchstpersönliche Spin-Doctor des Premierministers.

Lässt man Verschwörungstheorien byzantinischen Ausmaßes beiseite, wie etwa, dass Gordon Brown das Ansehen Tony Blairs absichtlich unterminieren würde, um selbst Premierminister zu werden, so ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass der Verfasser selbst oder einer der vier Adressaten dieses Memo absichtlich hat durchsickern lassen.

Es unterminiert die Versuche der Regierung, sich von zuviel "spin" zu distanzieren und sich wieder als gestandene Realpolitiker darzustellen. Zu diesem Zweck hatte man kürzlich den äußerst redegewandten Alistair Campbell aus der Schusslinie genommen, der ab nun keine persönlichen Briefings mit Lobby-Journalisten mehr vornimmt. Doch das genügt nicht mehr, denn das Bild, dass New Labour die Präsentation über die Inhalte stellt, hat sich als Negativ-Image bereits verfestigt. Der große Schaden für New Labour besteht darin, dass nicht mehr die Regierungspolitik das Thema ist, sondern wie die Regierung sich dem Wahlvolk zu verkaufen versucht.

Die Serie der durchgesickerten Memos sieht mehr und mehr wie eine, von wem auch immer, geschickt orchestrierte Kampagne aus. Selbst wenn man nicht für New Labour ist, mag diese Art der "Politik als permanenter Infowar" Besorgnis erregen. Die sogenannten "Broadsheets" (großformatige Zeitungen, gewöhnlich als qualitativ wertvoller betrachtet als die kleinformatigen "Tabloids") behandeln das Thema inzwischen auch mit weit weniger Zynismus und Schadenfreude.

Doch was ob diesen Tumulten kaum mehr Spaltenplatz findet, ist der Umstand, dass heute das Überwachungsgesetz (Regulation of Investigatory Powers - RIP) im Oberhaus des Parlaments diskutiert wird. Die Tory-Lords sind dagegen, doch die Labour-Lords werden mit ganz wenigen Ausnahmen dafür stimmen, so dass sie das Gesetz mit ihrer Mehrheit allem Anschein nach durchbringen werden. Allerdings könnten der Regierung noch letzte Änderungen abgerungen werden. Doch in den Grundzügen wird sich wohl nur noch wenig ändern. New Labour wird damit dem Vereinigten Königreich ein Gesetz verschaffen, laut dem Polizei und Geheimdienste in den Emails ihrer Bürger schnüffeln können und selbst die Bezirksverwaltungen Zugriff auf Verbindungsdaten bekommen, wie z.B. mit welchen Mobiltelefonanschlüssen wer in welchem Zeitraum telefoniert hat. Wenn die Regierung nur einen Funken Verstand hat, müsste sie gerade anhand er jüngsten Ereignisse begreifen, wie unangenehm es sein kann, wenn ein Fremder in den eigenen Emails herumwühlt.