Ungarisches Geheimdienstarchiv geöffnet

Bild: Ungarisches Historisches Archiv der Staatsicherheitsdienste

Forscher haben Gelegenheit, die bislang vor allem aus amerikanischen Quellen extrahierten Informationen zu verifizieren oder zu falsifizieren

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Ungarn hat eine durchaus interessante Geheimdienstgeschichte, die vom Nachrichtendienstlichen Evidenzbüro des k.u.k. Kriegsministeriums über die Magyar Államrendőrség Államvédelmi Osztálya (ÁVO), die "Staatsschutzabteilung der Ungarischen Staatspolizei" und deren berüchtigte Nachfolgebehörde "Államvédelmi Hatóság" (ÁVH) bis hin zum "Amt für nationale Sicherheit" Nemzetbiztonsági Hivatal (NBH) und zum heute aktiven "Amt für Verfassungsschutz" Alkotmányvédelmi Hivatal (AH) reicht, das sich mit Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, dem Organisierten Verbrechen und der Finanzkriminalität befasst.

Davon am besten erforscht ist bislang die zwischen 1949 und 1956 aktive ÁVH. Sie bildete einen "Staat im Staate", der 1953 etwa 40.000 Informanten beschäftigte, um 1.280.000 in Karteien erfasste Ungarn zu überwachen und auszuforschen. Das Klima der "Angst vor dem Klingeln", das sie dabei erzeugte, erstreckte sich bis in die Kommunistische Partei, in der es Schauprozesse und Hinrichtungen wie die des später rehabilitierten László Rajk gab. Die Vorwürfe, die dabei gemacht wurden, waren oft unscharf und beinhalteten - wie in der Tschechoslowakei - häufig Westkontakte, "Verschwörung" und "Zionismus".

Nach dem Ungarnaufstand entließen die Sowjets vorübergehend alle Mitarbeiter des bereits vorher von Imre Nagy offiziell aufgelösten Geheimdiensts. Fünf Jahre später fasste dann auch das Politbüro der Magyar Szocialista Munkáspárt (MSZMP) den Beschluss, das Treiben des ÁVH zu verurteilen. Agenten setzte man aber auch während der restlichen Laufzeit des Kalten Krieges noch ein - auch zur Überwachung der eigenen Bevölkerung.

Konferenz in Budapest

Vieles, was Historiker über den ÁVH und andere ungarische Geheimdienste bislang publizierten, stammt aus mindestens zweiter Hand: Aus frei gegebenem Material amerikanischer Geheimdienste. Damit sich diese Informationen anhand von Originaldokumenten aus der Zeit zwischen 1948 und 1989 verifizieren oder falsifizieren lassen, hat Ungarn nun sein Historisches Archiv der Staatsicherheitsdienste für die Forschung geöffnet. Den Auftakt dazu macht eine gestern eröffnete Konferenz in Budapest.

Der Historiker Dieter Bacher vom Wiener Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung erhofft sich aus der Archivöffnung unter anderem Antworten auf Fragen wie die, wie viele Geheimdienstmitarbeiter sich unter den Flüchtlingen befanden, die nach dem gescheiterten Aufstand 1956 über die Grenze nach Österreich kamen, und wie viele Agenten die Dienste des Nachbarlandes dort unter der einheimischen Bevölkerung anwerben konnten. Dabei interessieren ihn seinen eigenen Angaben nach weniger die "Einzelpersonen", als die "Netzwerke", der Umfang der Operationen und der Einfluss, den geheimdienstliche Erkenntnisse auf "konkrete politische oder wirtschaftliche Entscheidungen Ungarns zur damaligen Zeit" hatten.

Auch andere Geheimdienstarchive enthalten Material für interessante Entdeckungen

Welche hochinteressanten Erkenntnisse sich aus Geheimdienstarchiven gewinnen lassen, zeigt auch das gestern erschienene Buch Geheime Dienste von Klaus-Dietmar Henke. Der emeritierte Dresdner Zeitgeschichte-Professor, der der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes angehört, enthüllt darin unter anderem, dass der sächsische Schriftsteller Erich Kästner nicht nur unter einem Veröffentlichungsverbot der Nationalsozialisten litt, sondern auch ein Opfer des "gesinnungspolizeilichen Unwesens im frühen Gehlen-Dienst" der Bundesrepublik und unter der dort "damals gängigen Praxis des Rufmords" war.

Anlass dafür war, dass sich der Dresdner in der Nachkriegszeit nicht nur in München aufhielt, sondern auch in seiner Heimatstadt eine Wohnung unterhielt. Zudem schwärzten ihn Informanten wie der unter dem Decknamen F33 geführte ehemalige Münchner Gärtnerplatztheaterintendant Fritz Fischer beim BND-Vorläufer an, weil er im Osten den Kontakt zu alten Freunden wie der Ausdruckstänzerin Gret Palucca aufrecht erhielt.

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