Ungleichheit als Strukturelement der Klassengesellschaft
Seite 2: Max Webers modifizierter Klassenbegriff: Märkte als Quelle der Ungleichheit?
- Ungleichheit als Strukturelement der Klassengesellschaft
- Max Webers modifizierter Klassenbegriff: Märkte als Quelle der Ungleichheit?
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Der Heidelberger Jurist, Historiker, Nationalökonom und Soziologe Max Weber unterschied in seinem 1922 posthum erschienenen Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft zwischen der Wirtschaftsordnung, welche die "Klassen" beherbergt, der sozialen Ordnung, wo es um die Verteilung der "Ehre" geht und die "Stände" beheimatet sind, sowie einer Sphäre der Macht, wo die nach Einfluss auf das Gemeinschaftshandeln strebenden "Parteien" – gemeint waren damit jedoch nicht bloß politische Vereinigungen und Interessenverbände, sondern auch gesellige Zusammenschlüsse wie Vereine und private Klubs – zu Hause sind.
"Klasse" nannte Weber eine Personengruppe, deren Mitglieder sich in einer gemeinsamen Klassenlage befinden. Darunter verstand er die typische Chance der Güterversorgung, der äußeren Lebensstellung bzw. des inneren Lebensschicksals, welche aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens einer solchen) über Güter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt.
Weber differenzierte zwischen "Erwerbsklassen", bei denen die Klassenlage in erster Linie durch die Chancen der Marktverwertung von Gütern oder Leistungen bestimmt wird, und "Besitzklassen", bei denen hauptsächlich Besitzunterschiede die Klassenlage bestimmen. Letztere unterteilte er noch einmal in "positiv privilegierte Besitzklassen", z.B. Rentiers im weitesten Sinne (Sklaven-, Boden- und Bergwerksbesitzer, Aktionäre und Gläubiger), sowie in "negativ privilegierte Besitzklassen", z.B. Leibeigene, Deklassierte, Verschuldete und Arme.
Damit unterstellte Weber in Abgrenzung von Marx, dass Ungleichheit nicht durch die Ausbeutung von Lohnarbeiter(inne)n im Produktionsprozess, sondern erst durch die nachgelagerten Tauschvorgänge auf den Märkten entsteht. Nicht erst der Arbeitsmarkt verurteilt Paketzusteller, Getränkelieferanten oder Fahrradkuriere, ihren Lebensunterhalt mit einem prekären Beschäftigungsverhältnis und einem skandalös niedrigen Lohn bestreiten zu müssen, sondern der Ausschluss von den Produktionsmitteln, was heute auch eine digitale Plattform sein kann, durch das kapitalistische Privateigentum bildet die eigentliche Quelle ihrer Unterprivilegierung und Ausbeutung.
Würde ihnen die Firma gehören, für die sie arbeiten, wäre selbst eine geringe Qualifikation kein entscheidendes Handicap im Kampf um einen hohen sozialen Status. Der Marx’sche Klassenbegriff lenkt die Aufmerksamkeit auf die Existenz eines Ausbeutungsverhältnisses, was ihn vom Weber’schen Klassenbegriff ebenso unterscheidet wie von Schichtkonzepten.
Märkte erzeugen die Ungleichheit nicht, sondern machen sie nur deutlicher erkennbar. Auf ihnen agieren Wirtschaftssubjekte, deren Stellung im kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozess letztlich für ihre Handlungsspielräume ausschlaggebend ist, mit unterschiedlicher Kaufkraft bzw. unterschiedlichem Machtpotenzial als Nachfrager/innen und Anbieter/innen.
Webers auf den Markt beschränkte Klassentypologie ignoriert nicht bloß die Stellung der einzelnen Personen in der materiellen Produktion, sondern auch die qualitativen Unterschiede zwischen den einzelnen Märkten: Dass sich jemand als "Arbeitskraftbesitzer" auf einem schwierigen regionalen Arbeitsmarkt behaupten und um seinen Lebensunterhalt fürchten muss, weil er gesundheitliche oder psychische Beeinträchtigungen aufweist, ist nicht damit vergleichbar, dass jemand als Unternehmer, der hochwertige Gebrauchsgüter auf einem Warenmarkt anbietet, Absatzschwierigkeiten wegen einer Konsumflaute hat.
Auf diese Weise verwischt Webers Klassenbegriff die sozialen Grenzen zwischen dem Bürgertum und der arbeitenden Klasse. Denn lohnabhängig Beschäftigte bilden für ihn gemeinsam mit aktiven Unternehmern bzw. fungierenden Kapitalisten eine Erwerbsklasse, obwohl Welten sie trennen.
Andreas Reckwitz als Vertreter eines kulturalistischen Klassenbegriffs
Zu den Sozialforschern, die in jüngster Zeit wieder von Klassen sprechen, gehört Andreas Reckwitz. Dieser an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder lehrende Kultursoziologe hält die "Kulturalisierung und Singularisierung des Sozialen in der Spätmoderne" für den Beginn einer "neuen Klassengesellschaft", die sich jedoch anders zusammensetze als die vergangene, mit der industriellen Moderne verschwundene.
Zwar sei die globale Ökonomie der Spätmoderne, wie Reckwitz sie nennt, eine im Kern weiterhin kapitalistische. Es handle sich heute aber um einen "postindustriellen" und "kognitiv-kulturellen" Kapitalismus, auf dessen Märkten nur erfolgreich sei, was über seine Funktion hinaus einen symbolischen Wert habe. Kognitiv sei diese Ökonomie, weil immaterielles Kapital, d.h. Urheberrechte, Patente, Netzwerke, Datenbestände usw. durch Wissensarbeit komplettiert werde.
Reckwitz distanziert sich von der marxistischen Klassentheorie ebenso wie von "Einseitigkeiten" der Lebensstil- und Milieuforschung, indem er die Relevanz spezifischer kultureller Lebensformen für die Konstitution von sozialen Klassen stärker akzentuiert, ohne die Bedeutung der ungleichen Ressourcenverteilung völlig zu leugnen.
Strittig ist zwischen Marx noch Engels auf der einen und Reckwitz auf der anderen Seite die Reihen- bzw. Rangfolge zwischen der sozioökonomischen, der politischen und der kulturellen Dimension des Klassenbegriffs. Und an dieser zentralen Stelle irrt Reckwitz gründlich. Einen berühmten Satz aus der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht abwandelnd, kann man nämlich formulieren: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Kultur. Das gilt für die Menschheitsgeschichte ebenso wie für die Biografie jedes einzelnen Individuums.
Sobald die materiellen Existenzgrundlagen der Menschen gesichert und damit die Voraussetzungen für eine halbwegs angstfreie Betätigung auf geistigem Gebiet entstanden sind, gewinnt die Kultur zwar enorm an Bedeutung für ihr Leben, bleibt aber weiterhin von Ersteren abhängig. Dies mussten Künstler/innen und Kulturschaffende zuletzt während der Coronakrise leidvoll erfahren: Als viele ihrer Aufträge oder Auftritte storniert wurden, stand die Sicherung der nackten Existenz für alle Betroffenen im Vordergrund ihres Tuns.
Folgt man Reckwitz, hat sich aus der Erbmasse einer "allumfassenden Mittelschicht der industriellen Moderne" durch Postindustrialisierung und Bildungsexpansion eine "Dreier-Struktur der Klassen" entwickelt: "Auf der einen Seite ist eine hochgebildete, urbane neue Mittelklasse emporgestiegen – das neue Leitmilieu der Spätmoderne –, auf der anderen eine neue prekäre Unterklasse vor allem von Mitgliedern eines Dienstleistungsproletariats nach unten abgerutscht. Zwischen beiden verharrt die traditionelle, an Ordnung und Sesshaftigkeit orientierte Mittelklasse."
Reckwitz verkennt, dass Milieus und Mentalitäten nicht an eine bestimmte Klassenzugehörigkeit gebunden sind. Obwohl oder vielleicht auch gerade, weil Reckwitz‘ Ansatz die überragende Bedeutung der sozioökonomischen Basis für Kreativität, Intellektualität und Spontaneität negiert, hat das bürgerliche Feuilleton seinen diffusen, kulturalistisch deformierten bzw. verkürzten Klassenbegriff mit Begeisterung aufgenommen. Auf eine sehr viel geringere Resonanz in der (Medien-)Öffentlichkeit stoßen hierzulande marxistische Theorieansätze, selbst wenn sie die Fortentwicklung bzw. Modifikation der Sozialstruktur im Gegenwartskapitalismus umfassender und fundierter reflektieren.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt.
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