"Unsere demokratischen Freiheiten müssen verteidigt werden"
Interview mit dem Historiker Harry Waibel über die Ursachen der Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland
Der Historiker Harry Waibel forscht hauptsächlich zur Geschichte der extremen Rechten in der DDR, sowie zum Rassismus in der Bundesrepublik. Telepolis sprach mit ihm über seine Einschätzung der Wahlerfolge der AfD bei den Kommunalwahlen im Osten Deutschlands am vergangenen Sonntag.
Die Europawahl vergrößerte die bereits gegebenen Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Ost- und Westdeutschland. Während die AfD im Westen weit hinter ihren Erwartungen zurückblieb, konnte sie in Sachsen und Brandenburg zur stärksten der Parteien aufsteigen. Es scheint ja so, als ob die Teilung Deutschlands sich wieder vertiefen würde. Vor dem Hintergrund Ihrer Forschungen zu Rechtsextremismus in der DDR - wo sehen Sie die Ursachen dieser rechten Triumphe im Osten?
Harry Waibel: Erstens: Die Entnazifizierung hat in der DDR, gleich der in der BRD, mehr schlecht als recht stattgefunden.
Zweitens: Der kommunistische Antifaschismus blendet den Massencharakter des deutschen Faschismus völlig aus und kommt daher zu einer falschen Einschätzung der Bewusstseinslage der Bevölkerung in der DDR.
Drittens: Neonazismus, Rassismus und Antisemitismus in der DDR wurden bis 1988 nicht ernsthaft wahrgenommen.
Zu allen drei Punkten gab es in der DDR keine wissenschaftlichen oder publizistischen Veröffentlichungen. Die gesamte Problematik wurde vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Ausschließlich in den Führungsetagen von SED oder MfS gab es hin und wieder Erkenntnisse, die in Teilen mit der Wirklichkeit übereinstimmten.
Sie sagen, rechtsextreme Umtriebe wurden nicht wahrgenommen. Gab es in der DDR der 1980er Jahre tatsächlich eine aktive rechtsextreme Szene? Wie groß war sie?
Harry Waibel: Nach Einschätzungen einer Wissenschaftlerin der HU Berlin und einer Arbeitsgruppe "Skinhead" der Volkspolizei gab es 1988/89 etwa 5.000 organisierte Neonazis, um die herum sich etwa 10.000 Sympathisanten befanden.
Eine Art Nachfolgepartei der SED mit anderen Mitteln
Können Sie präzisieren, wieso die kommunistische Faschismusanalyse falsch ist - und wieso sie die Etablierung einer extremen Rechten in der DDR beförderte?
Harry Waibel: Der kommunistische Antifaschismus definierte den Faschismus als Ausdruck kapitalistischer Verhältnisse. Deshalb konnten die Kommunisten in der DDR behaupten, dass bei ihnen durch die Verstaatlichung der Groß-Industrie und der Banken, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus der Boden entzogen worden wären. Sie bekämpften seit den 1920er Jahren soziologische und psychologische Studien über den Massencharakter des Faschismus.
Ist Ihrer Ansicht nach die AfD somit eine Art Nachfolgepartei der SED?
Harry Waibel: Die AfD ist im Osten eine Art Nachfolgepartei der SED mit anderen Mitteln.
Können Sie das genauer ausführen? Sind es die sekundären, autoritären Eigenschaften des real existierenden Sozialismus, auf denen die AfD aufbauen kann? Oder gibt es auch ideologische Kontinuitätslinien?
Harry Waibel: Die autoritären Verhältnisse in der DDR prägten mehrere Generationen der Bevölkerung. Diese Prägungen bilden die Voraussetzung für den autoritären Ausbruch, der sich seit den 1990er Jahren in Ostdeutschland und in Osteuropa in rechten Einstellungen und Aktionen ausdrückt. Entlang der autoritären Prägung durch die SED bis hin zu den ähnlichen Vorstellungen in der Führung der AfD sind Kontinuitätslinien festzustellen.
Sehen Sie Parallelen zwischen der autoritären, präfaschistischen Formierung in Ostdeutschland und in anderen osteuropäischen EU-Ländern wie etwa Ungarn oder Polen? Es ließe sich somit argumentieren, dass die AfD de facto eine osteuropäische Partei ist, dass die Grenze zwischen West- und Osteuropa somit an der Oder verläuft.
Harry Waibel: Genau so sehe ich das ebenfalls.
Mitverantwortung der westdeutschen Funktionseliten
Spielen nicht auch andere Faktoren eine Rolle beim Aufstieg der Neuen Rechten zur dominanten Kraft im Osten? Die Funktionseliten in den Neuen Bundesländern kamen überwiegend aus der BRD, die ja nie eine konsequente Entnazifizierung erfahren hat. Sachsen unter dem "Westimport" Kurt Biedenkopf etwa ist ein Paradebeispiel für ein Bundesland, dessen Politeliten seit den 1990er Jahren den Neonazismus verharmlost oder rundweg geleugnet haben, während antifaschistisches Engagement staatlicherseits oftmals behindert wurde.
Harry Waibel: Die Struktur der Rechten gegenwärtig ist ein Zusammenschluss ost- mit westdeutschen Rechter seit 1990. Der Westen brachte intellektuelles und wissenschaftliches Personal und Know-How und der Osten brachte die kampferprobten Neonazis, Skinheads oder Hooligans ein.
Es ging mir eher darum, ob die Ignoranz der westlichen Funktionseliten gegenüber der rechten Gefahr in den Neuen Bundesländern nicht dazu beigetragen hat, diese rechtsextremen Strukturen zu stärken. Anders gefragt, haben Leute wie Biedenkopf nicht die Strategie des "Verschweigens" rechtsextremer Umtriebe, die in der DDR üblich war, einfach fortgesetzt?
Harry Waibel: In diesem Verschweigen bzw. der Verharmlosung der rechten Gefahr sehe ich die Mitverantwortung der westdeutschen Funktionseliten.
Welche Rolle spielten in den 1990er Jahren westdeutsche Nazis beim Aufbau rechtsextremer Strukturen in der ehemaligen DDR?
Harry Waibel: Der Einmarsch der neonazistischen Führungsclique um M. Kühnen u. v. a. m. wurde bewerkstelligt durch die ostdeutschen Neonazis, die aus den Gefängnissen der DDR von der Bundesrepublik freigekauft worden waren. Sie waren die Pfadfinder in die kleinen und großen Städte der ehemaligen DDR.
Die ostdeutschen Nazis stellten die "Muskeln" und lieferten die Ortskenntnisse, vom Westen kamen das Geld und die organisatorischen Fähigkeiten, können wir uns das so vorstellen?
Harry Waibel: So ist das gelaufen.
Die richtige Strategie und die Gefahr
In der Öffentlichkeit wird ja immer wieder gerne argumentiert, dass man die Sorgen und Ängste der berüchtigten "besorgten Bürger" ernst zu nehmen habe, die die AfD wählten. Illustriert nicht gerade Sachsen, dass man mit einer Taktik des Entgegenkommens, der Übernahme rechter Rhetorik und Politik nur die Neue Rechte immer weiter stärkt, ihr zur Hegemonie verhilft? Wäre nicht konsequente Opposition und Gegenwehr die richtige Strategie, um mit den autoritären Charakteren fertig zu werden, die in dieser Bewegung dominieren?
Harry Waibel: Sicherlich, gerade auf dem Hintergrund der Nazi-Vergangenheit, ist eine konsequente und entschlossene Bekämpfung der rechten Bewegung notwendig. Das Problem ist die Unsicherheit von vielen Deutschen darüber, ob und wie eine rechte Bewegung zu stoppen und zu dezimieren ist.
Wie sehen Sie das? Wie müsste Ihrer Meinung nach eine effektive antifaschistische Strategie aussehen?
Harry Waibel: So wie es aussieht, benötigten die demokratischen und antifaschistischen Frauen und Männer in Ostdeutschland massive Hilfe bzw. Unterstützung aus dem Westen. Strategisch gesprochen ist es wichtig, den Zusammenhang herzustellen zwischen dem Scheitern der Zivilgesellschaft in den 1920/30er Jahre und der gegenwärtigen Situation.
Es muss daran erinnert werden, was es heißt, wenn die extreme Rechte nicht gestoppt wird: Es bedeutet, dass die Tötungen von Migranten, Linken, Homosexuellen, Behinderten oder Obdachlosen weitergehen wird und das wir damit erneut vor der Gefahr einer blutigen Gewaltherrschaft stehen könnten. Will sagen, dass Freiheiten der parlamentarischen, indirekten Demokratie, so wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, verteidigt werden müssen. Auch, um Optionen für eine nachhaltige Veränderung der Gesellschaft und des Staates erreichen zu können.
Welche Rolle spielten die Krisenschübe der vergangenen Jahre bei der Verankerung der Neuen Rechten in Ostdeutschland? Die AfD ist ja im Zuge der Eurokrise groß geworden als Anti-Euro-Partei, dann kam die Flüchtlingskrise, die dieses neurechte Spektrum weiter ins Extrem trieb. Was halten sie von Erklärungsansätzen, die Abstiegsängste, die Angst vor der unverstandenen Krise, oder tatsächliche soziale Verwerfungen im Osten ins Zentrum der Analyse rücken?
Harry Waibel: Alle diese Krisen stellten und stellen den Input dar für die Entwicklung der rechten Bewegung in Ost- und Westdeutschland.
Kann man somit den Faschismus als eine extremistische Krisenideologie begreifen - auch angesichts der historischen Erfahrungen mit dem NS-Regime nach der Weltwirtschaftskrise von 1929?
Harry Waibel: Das sehe ich so.
"Es gibt bei der AfD keine sichtbaren Widersprüche zwischen Ost- und Westdeutschland"
Kommen wir zur aktuellen Entwicklung: Wie schätzen Sie die Chancen der AfD bei den kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland ein? Sind die Rechtspopulisten auf dem Weg, zu einer neuen "Ostpartei" zu werden?
Harry Waibel: Die Rechten werden, so viel lässt sich gegenwärtig sagen, wichtige Machtpositionen bei den anstehenden Landtagswahlen erreichen. Von dort aus werden sie ansetzen, den Westen Deutschlands zu bekommen.
Allen braunen Skandalen zum Trotz gibt sich die AfD nach außen hin immer noch bieder-bürgerlich. Wie ist das Verhältnis zwischen dieser Partei und der offen rechtsextremen Subkultur in Ostdeutschland? Gibt es da klare Abgrenzungen zu militanten Nazis oder eine mehr oder minder ausgeprägte Kooperation?
Harry Waibel: Seit Karl-Marx-Stadt (von 1953 bis 1990 Name von Chemnitz, Anm. der Red.) im vergangenen Sommer ist klar, dass die AfD sich mehr oder weniger offen zu den gewalttätigen Rechten verhält.
Die AfD ist ja kein homogener Block. Charakterisieren Sie doch bitte die wichtigsten Strömungen in dieser Partei. Wie würden Sie diese Partei einschätzen, dominieren da rechtspopulistische Kräfte, oder kann man schon von einer rechtsextremen Formation sprechen. Gibt es dabei auch eine innerparteiliche Spaltung zwischen Ost und West?
Harry Waibel: Es gibt bei der AfD keine sichtbaren Widersprüche zwischen Ost- und Westdeutschland. Die rechtsextremen Einstellungen ihres Führungspersonals (Gauland, Höcke usw.) sind evident. Ihre weitere Entfaltung wird möglich werden, falls es zu tiefgreifenden ökonomischen oder politischen Beben kommen sollte. Ein weiterer Aspekt der Entwicklung der rechten Bewegung in der BRD ist ihr internationaler Zusammenschluss mit Le Pen, Salvini etc. Insofern sehe ich auch hier starke Parallelen zu den 1920er Jahren.
Reicht somit ein neuer Krisenschub, um der Neuen Rechten im Europa zum Durchbruch zu verhelfen?
Harry Waibel: Das wäre die Beschreibung eines Szenarios für eine mögliche, weitere Radikalisierung der Rechten.
Buchveröffentlichungen von Harry Waibel:
Rassisten in Deutschland., Frankfurt am Main 2012
Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR., Frankfurt am Main, 2014
Die braune Saat. Antisemitismus und Neonazismus in der DDR., Stuttgart, 2017