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Unterstützung der Ukraine: Verhandlungen statt Waffen

Alice Schwarzer verteidigt offenen Brief gegen Waffenlieferungen an Ukraine. Und tatsächlich: Ziele deutscher Außenpolitik werden zu wenig diskutiert. Ein Kommentar

Mit der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Emma macht die Publizistin Alice Schwarzer deutlich: Sie gibt nicht auf und warnt weiterhin vor den Folgen, sollte die Ukraine weiterhin mit Waffen vollgepumpt werden. "Denn die Gefahr eines dritten Weltkrieges ist weiterhin hoch", schreibt sie [1].

Ende April hatte sie zusammen mit 27 anderen Intellektuellen einen offenen Brief [2] an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) veröffentlicht, in dem dieser aufgefordert wird, von der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine abzusehen.

Die Reaktionen auf die Initiative waren sehr unterschiedlich. Mehr als 290.000 Personen unterschrieben den Brief [3] bislang und stimmten dem Inhalt zu. Aber die Erstunterzeichner ernteten mitunter auch ausfallende Kritik [4]. Hämisch wurden sie als "Vulgärpazifisten" und "Sofapazifisten" bezeichnet, sie wurden als "total naiv" bezeichnet und ihnen wurde vorgeworfen, den Verstand verloren zu haben.

Ihren Platz in den Medien hatten Schwarzer und ihre Mitstreiter auch weiterhin; das mediale Fegefeuer blieb ihnen erspart, in dem viele Abweichler zur Corona-Politik noch schmoren mussten. Das könnte damit zu tun haben, dass sich die Positionen des offenen Briefes nicht einfach als absurd abgetan werden können.

Auch New York Times fragt nach den Zielen des US-Engagements

Ein anderer Grund könnte auch sein, dass sich Diskussion – zumindest außerhalb Deutschlands – ändert. Die New York Times (NYT) [5] fragte, was denn eigentlich das Ziel des Engagements für die Ukraine sei und ob es nicht sinnvoll sein könnte, den Krieg über Verhandlungen zu beenden.

Ohne Klarheit bei den Zielen des US-Engagements, heißt es bei der NYT, drohe nicht nur die Unterstützung in der heimischen Bevölkerung verloren zu gehen. Durch die den US-Amerikanern aufgebürdeten ökonomischen Lasten könnte ihr Interesse an der Verteidigung der Ukraine verloren gehen. Aber, so heißt es weiter, die Ziellosigkeit drohe auch, den Frieden auf dem europäischen Kontinent auf lange Sicht zu gefährden.

Es sei unrealistisch, auf einen entscheidenden militärischen Sieg der Ukraine über Russland zu hoffen, durch den auch die Krim und der Donbass zurückerobert würden. Und solche unrealistischen Erwartungen könnten die USA immer tiefer in einen kostspieligen und langfristigen Krieg hineinziehen, so die Warnung der NYT.

Auch in Großbritannien wird in zunehmendem Maße Kritik am westlichen Vorgehen gegen Russland geäußert, da immer deutlicher wird, dass die verhängten Sanktionen nicht nur den Europäern selbst auf die Füße fallen, sondern auch Millionen von Menschen in anderen Regionen indirekt als Geiseln nehmen.

Sanktionen würden nur selten dazu führen, die Politik eines Landes zu ändern, hieß es zum Beispiel in The Guardian [6]. Und im Falle Russlands seien die Sanktionen gescheitert. Und sie hätten vor allem nur zu einer steigenden Inflation [7] in den Ländern des Westens geführt.

Und der Guardian macht auch darauf aufmerksam, dass die negative Sicht auf Russland hauptsächlich von den "westlichen liberalen Demokratien" geteilt wird. Der Rest der Welt [8] hat dagegen nicht diesen verengten Blick.

Alice Schwarzer ist zwar nicht die Einzige, die darauf hinweist, dass ein Prozess des Aufwachens westlicher Medien im Gange ist; aber sie ist eine gewichtige Stimme, die von vielen gehört werden könnte. Gerade in Deutschland tut es Not, dass die Debatte über die Ziele und Folgen des Engagements geführt wird.

Deutsche Politiker möchten Niederlage Russlands

Noch hat es den Anschein, dass die Bundesregierung den Konflikt bis zur Niederlage Russlands weitertreiben will. Besonders bei den Grünen scheinen sich die Scharfmacher zu sammeln. Grünen-Chef Omid Nouripour [9] erklärte kürzlich erst, die Ukraine solle über Russland gewinnen. Auch die grüne Außenministerin Annalena Baerbock hatte sich kürzlich in der ZDF-Sendung "Markus Lanz" zu diesem Ziel bekannt [10].

Baerbock ging aber noch weiter: Sie betonte, man müsse durchhalten und einen langen Atem haben; sie warnte vor Kriegsmüdigkeit. Doch diese Aussagen bringen nur eine Haltung zum Ausdruck, wie man sie im Wohlstand lebend, weit von der Front entfernt haben kann. Viele Ukrainer dürften das anders sehen.

Schwarzer fragt nun:

Doch wollen wirklich alle Kämpfenden in der Ukraine Helden sein? Auch all die 18- bis 60- jährigen Ukrainer, die vom ersten Kriegstag an zwangsmobilisiert wurden? Unter ihnen hatten drei von vier vermutlich zuvor noch nie eine Waffe in der Hand. Wie stehen deren Überlebenschancen?

Und das sind berechtigte Fragen, wie Berichte aus der Ukraine zunehmend verdeutlichen. Die Washington Post hatte zum Beispiel mit Freiwilligen der ukrainischen Territorialverteidigung [11] gesprochen, die meinten, verheizt und von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen zu werden.

Ähnliches berichtete ein ukrainischer Dolmetscher [12], der seine Familie in Sicherheit brachte und dann zwangsrekrutiert und nach kurzer Ausbildung an die Front verlegt wurde. Auch weigern sich [13] immer wieder ukrainische Fronteinheiten, in den Kampf zu ziehen, weil sie kein Kanonenfutter sein wollen.

Nein, Helden wollen die meisten Ukrainer sicher nicht sein – sie wollen leben, in Frieden leben. Und welchen Beitrag dazu leisten die westlichen Waffenlieferungen und die Durchhalteparolen der deutschen Außenministerin? Tragen sie nicht eher zum Gegenteil bei?

Über diese Fragen muss diskutiert werden. Der Offene Brief von Alice Schwarzer und ihren Mitstreitern kann nur ein erster Schritt gewesen sein.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7132560

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.emma.de/artikel/ja-ich-bin-pazifistin-339529
[2] https://www.heise.de/tp/features/Risiko-einer-Ausweitung-des-Krieges-auf-ganz-Europa-7070276.html
[3] https://www.change.org/p/offener-brief-an-bundeskanzler-scholz
[4] https://www.heise.de/tp/features/Alice-Schwarzer-zu-Ukraine-Appell-Ernsthaft-von-Gefahr-eines-Weltkriegs-ueberzeugt-7072293.html
[5] https://www.nytimes.com/2022/05/19/opinion/america-ukraine-war-support.html
[6] https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/may/30/eu-forget-sanctions-russia-ukraine-food-energy-prices
[7] https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/jun/02/russia-economic-war-ukraine-food-fuel-price-vladimir-putin
[8] https://www.theguardian.com/world/2022/may/30/negative-views-of-russia-mainly-limited-to-western-liberal-democracies-poll-shows
[9] https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-news-am-sonntag-putin-warnt-westen-vor-lieferung-von-langstreckenraketen-an-ukraine-a-56553424-2ea4-4329-a331-eb3d6d754e33
[10] https://www.youtube.com/watch?v=mas-zZh2l2o
[11] https://www.heise.de/tp/features/Freiwilliger-der-ukrainischen-Territorialverteidigung-Wir-werden-in-den-sicheren-Tod-geschickt-7128790.html
[12] https://www.jungewelt.de/artikel/427348.ukraine-dokument-des-krieges.html
[13] https://www.jungewelt.de/artikel/427383.krieg-in-der-ukraine-kein-kanonenfutter.html