Freiwilliger der ukrainischen Territorialverteidigung: "Wir werden in den sicheren Tod geschickt"
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Im Donbass scheint Russland auf dem Vormarsch zu sein. Über Propaganda und Wirklichkeit des Krieges
Die ukrainische Propagandamaschine hat bislang überragend funktioniert, während die russische dank Zensur im eigenen Land vielleicht das Bild einer angeblich erfolgreichen "Sonderoperation" mit großen Verlusten der Ukraine aufrechterhalten konnte. Die ukrainische Führung konnte bislang überzeugen, wozu auch die Schließung von oppositionellen Medien und die verordnete staatliche Propaganda in den verbliebenen Fernsehsendern beigetragen hat, dass der heldenhafte Widerstand der ukrainischen Truppen der russischen Armee große Verluste zugefügt, ihren Vormarsch gestoppt und teilweise zurückgeschlagen hat.
Seit Anfang April herrschte der Tenor vor, dass die Ukraine siegen und die Russen zurückschlagen wird, wozu nur ausreichend Waffen aus dem Westen und schärfere Sanktionen gegen Russland notwendig seien. Ob das den Westen überzeugt hat oder die von ihm ausgehende Devise war, ist noch nicht wirklich zu klären. Die Verluste der Ukraine werden verschwiegen, wie das auch Russland macht.
Seit der Verlagerung der Front in den Donbass und den Versuchen, ukrainische Truppenverbände einzuschließen, beginnt das ausgegebene Bild aber Risse zu erhalten. Dort haben die russischen Truppen Luftüberlegenheit. Ihre Angriffe nehmen die seit 2014 von der Ukraine ausgebauten Verteidigungsanlagen in den Städten vermehrt unter Artilleriebeschuss.
Offenbar gibt es unter den ukrainischen Streitkräften große Verluste, sodass nun seit Mai verstärkt Einheiten der Territorialverteidigung an die Front kommen, die eigentlich als eine Art Bürgerwehr ihre Gemeinden sichern sollten, aber nicht für den Kampf an der Front ausgebildet und auch nicht mit entsprechenden Waffen ausgerüstet wurden.
Es sollen viele sterben, sich weigern zu kämpfen oder sich ergeben. Mehr als 8.000 ukrainische Kämpfer sollen bereits in Kriegsgefangenschaft der "Volksrepubliken" DNR und LNR sein. Dazu geht das Kampfmaterial aus, der Nachschub aus dem Westen scheint nicht wirklich in der Ostukraine anzukommen, die russische Armee behauptet immer wieder, Depots zerstört zu haben, in denen Waffen aus dem Westen gewesen seien.
MLRS sollen den Kriegskurs verändern
In den letzten zwei Wochen wurden von Selenskyj und Co. fortwährend weitreichende Mehrfachraketenwerfer M270 MLRS und High Mobility Artillery Rocket System (HIMARS) verlangt, um im Donbass bestehen zu können.
"Vier Buchstaben können der Ukraine helfen, die russische Offensive im Donbass abzuwehren", sagte vor wenigen Tagen der ukrainische Außenminister Kuleba, "die russischen Pläne zur Annexion von Cherson zu durchkreuzen, russische Folter, Vergewaltigung und andere schreckliche Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten zu stoppen, die Blockade von Exporten aufzuheben und eine weltweite Nahrungsmittelkrise abzuwenden. Diese vier Buchstaben sind MLRS."
Mit entsprechender ATACMS-Munition haben diese Systeme eine Reichweite von bis zu 300 km, mit Präzisionsraketen bis zu 500 km, viel weiter und auch genauer als die von der Ukraine eingesetzten oder neuerdings von der Tschechischen Republik und anderen osteuropäischen Staaten gelieferten Raketenwerfer. Druck wurde vor allem auf Washington ausgeübt, wo man zunächst zögerte, weil das eine weitere Kriegsbeteiligung darstellt, vor allem aber, weil ukrainische Truppen damit auch Ziele in Russland selbst angreifen könnten.
Russland warnt
Russland hat schon gewarnt, dass die USA mit der Lieferung eine rote Linie überschreiten. Washington will dies nun wahrscheinlich trotzdem machen oder soll es bereits beschlossen haben, ähnlich wie dies mit den M777-Haubitzen zuvor geschehen ist. Mit MLRS und HIMARS könnten die ukrainischen Truppen, sofern sie auch die entsprechende Munition erhalten, die normale russische Artillerie mit einer Reichweite von bis zu 50 km aus sicherer Entfernung beschießen und auch Ziele hinter der Frontlinie erreichen. Das könnte im gegenwärtigen Artilleriekrieg ein entscheidender Vorteil der Ukraine werden.
Mikhail Podolyak, ein Berater des Präsidenten, propagierte, die Russen würden wegen der zu erwartenden Lieferung von MLRS schon hysterisch werden. Gleichzeitig erklärte die stellvertretende Verteidigungsministerin Anna Malyar, dass die Ukraine viele Verträge über Waffenlieferungen abgeschlossen habe, aber dass es Zeit brauche, bis diese wirklich in die Ukraine kommen.
Präsident Selenskyj reiste gestern erstmals seit Kriegsbeginn an die Front und besuchte Militär bei Charkiw, wo ukrainische Truppen angeblich die russische Armee etwas zurückgedrängt haben. Der Besuch weist schon darauf hin, dass die Situation dort für Kiew kritisch ist. In die stark umkämpfen Gebiete ging Selenskyj allerdings nicht.
Er ehrte Soldaten mit Orden und versuchte Siegesstimmung zu verbreiten. Zwar sei die Lage in Charkiw und im Donbass "sehr kompliziert", aber Russland habe bereits die Schlacht um Kiew und Charkiw verloren, aber sie müssten noch kämpfen. Der Krieg gehe weiter.
Allerdings dürfte die Stadt Sjewjerodonezk (häufig auch: Sewerodonezk) bald vollständig eingeschlossen und eingenommen sein. Kadyrow sprach davon, dass man in einer Woche die Kontrolle über die Stadt habe. Angeblich sollen sich dort 10.000 ukrainische Soldaten verschanzt haben. Die Stadt könnte zu einem zweiten Mariupol werden. Nur gibt es dort keine unterirdischen Anlagen wie auf dem Gelände von Azovstal.
"Man betet nur ums Überleben"
Im Widerspruch zu Helden-Geschichten hat nun die US-Zeitung Washington Post Berichte von freiwilligen Kämpfern der ukrainischen Territorialverteidigung veröffentlicht, die einen weniger heroischen Kriegsalltag schildern, wie das auch schon Ausländer berichtet haben, die für die ukrainische Fremdenlegion gekämpft hatten.
Krieg im Donbass (12 Bilder)
Freiwillige hätten in den Schützengräben in der Ostukraine an vorderster Front gerade einmal von einer Kartoffel pro Tag gelebt und seien dem russischen Artilleriebeschuss ausgeliefert gewesen. Wenn Panzer geschossen hätten, hätten die Russen ihre Position identifiziert und zurückgeschossen: "Man betet nur ums Überleben", so Serhi Lapko, Kommandeur einer Freiwilligeneinheit. "Im ukrainischen Fernsehen sehen wir, dass es keine Verluste gibt. Es gibt keine Wahrheit."
Von den anfänglichen 120 Mitgliedern seien 54 übriggeblieben, die übrigen seien tot, verletzt oder desertiert, auch weil sie traumatisiert waren. Die Todesfälle seien meist dem geschuldet, dass die Verwundeten nicht schnell genug in ein Krankenhaus transportiert werden.
Oft müsse man mehr als zwölf Stunden warten, bevor das geschieht. Mitunter müssten Verletzte kilometerweit auf einer Bahre getragen werden, um ein Fahrzeug zu finden. Zwei Fahrzeuge, die ihre Einheit bekommen sollte, würden in der Kommandozentrale verwendet werden.
Sie hätten nicht damit gerechnet, an die Front bei Toschkiwka in der Nähe von Sjewjerodonezk versetzt zu werden, wo sie ohne Unterstützung ihrer militärischen Vorgesetzten nur ums eigene Überleben kämpften. Die Mitglieder der Einheit der Territorialverteidigung, die mit der US-Zeitung sprachen, kommen alle aus der Westukraine.
Sie bekamen eine AK-47 und erhielten eine Ausbildung von einer halben Stunde. 30 Schuss konnten sie abfeuern, dann hieß es, das sei genug, die Munition sei zu teuer. Schon als sie in die Region Lugansk versetzt worden seien, hätten Dutzende sich geweigert, in den Kampf zu ziehen. Sie seien festgenommen worden.
Als sie die Lage an der Front nicht länger aushalten konnten und der Bataillon-Kommandeur samt Team ohne Erklärung, aber mit Lebensmittel- und anderen Vorräten in eine andere Stadt gegangen waren, hatten sie sich letzte Woche in ein Hotel 100 km von der Front entfernt zurückgezogen und dort mit Reportern der Washington Post gesprochen. Sie müssen mit harter Bestrafung rechnen, erklärten aber, dass sie weiterkämpfen wollen – aber mit angemessener Führung und ohne unrealistische Befehle.