Unwissend, verlogen, heuchlerisch - und stolz darauf?
Im Bereich Onlinedurchsuchung und Vorratsdatenspeicherung bestätigt die SPD derzeit nicht nur alle Vorurteile gegenüber Politikern, sie scheint hierfür auch noch ein Lob erhalten zu wollen
Politiker sind Umfaller, haben keine Ahnung, heucheln oder lügen – so einige der gängigen Vorurteile, die man Politikern entgegenbringt. Wer auch immer zur Zeit für die Public Relations der SPD zuständig ist, der sollte eine Umschulung in Erwägung ziehen. Denn die derzeitigen Kommentare etlicher SPD-Mitglieder zu heiklen Themen wie Onlinedurchsuchung und Vorratsdatenspeicherung tragen nicht gerade dazu bei, diese Vorurteile zu entkräften. Im Gegenteil – es wird mit Unwissen und Machtlosigkeit kokettiert und dem Wähler direkt das Gefühl gegeben, die Zeit, da sich Politiker noch wenigstens den Anschein gaben, zu wissen, wovon sie sprächen, sei endgültig vorbei. Heutzutage gibt man offen zu, nicht gewusst zu haben, was man tat, oder verbreitet unverdrossen weiter Halbwahrheiten und Nebelkerzen.
Schon beim ersten Umsetzungsbeschluss des Bundestages zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) in Deutschland war die vermeintliche Machtlosigkeit der Abgeordneten ein Thema. Jörg Tauss, nach Außen hin stetiger Kritiker der VDS, votierte für die Umsetzung und stellte sich hier als Marionette der EU dar, die ja nicht anders konnte, als einer Vorgabe der EU zuzustimmen. Nicht einmal die Einschätzung, dass die VDS nicht in Einklang mit Datenschutz und Privatsphäre zu bringen sei, war hier Grund genug, um sich einer solchen „Abnicktaktik“ zu verweigern.
Ich halte das in der Tat für einen Anschlag auf Bürgerrechte und auf Datenschutz in Europa, der inakzeptabel ist; da stimme ich den Kritikern zu. Mit dieser Bewertung komme ich jetzt aber nicht weiter. Wir haben diese Richtlinie nun einmal umzusetzen. Würden Sie deswegen nicht auch konstatieren, dass sich hier etwas an der Lage geändert hat? Wir müssen eine Richtlinie umsetzen, ob sie uns gefällt oder nicht.
Jörg Tauss
Von Machtlosigkeit und Mindestanforderungen
Der Abgeordnete des Bundestages, der laut Gesetz nur seinem Gewissen verpflichtet ist, als hilfloser Büttel der EU? Tauss stellte dies eindeutig so dar. Ferner stellte er seine eigene Arbeit in Bezug auf die VDS so dar, als hätte er tatkräftig dafür gesorgt, dass nur die Mindestanforderungen umgesetzt werden würden. Empört verwahrte sich der Medienpolitiker gegen Kritik an seiner „Jasagen-obwohl-ich-eigentlich-dagegen-bin“-Taktik:
Was ist denn das für eine Albernheit? Da die Richtlinie kommen wird, habe ich dafür gesorgt, dass in Deutschland allenfalls eine Mindesumsetzung erfolgt. Dies habe ich den Antrag reinverhandelt, so dass ich ihm selbstverständlich dann auch zugestimmt habe. Hierfür hätte ich eigentlich eher Anerkennung erwartet. Bitte erst denken und informieren, dann schreiben.
Aus einer Antwort von Jörg Tauss auf Kritik an seinem Abstimmungsverhalten bezüglich der VDS
Dass der Umsetzungsbeschluss über die Vorgaben der Richtlinie hinausgeht, indem er die Verwendung der VDS-Daten auch für „mittels Telekommunikation begangener Straftaten“ ermöglicht, statt die Formulierung der Richtlinie zu übernehmen – kein Wort dazu von Herrn Tauss. Bei der Abstimmung, welche die VDS in Deutschland nun endgültig einführte, fehlte Herr Tauss. Er bedauerte die mehrheitliche Position der Genossen und ergänzte, dass „massive Bedenken hinsichtlich der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer solchen flächendeckenden Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat“ bei ihm bestünden. Weshalb er selbst u.a. den Weg für diese Speicherung ebnete, indem er seine Stimme abgab? Nun, er war eben machtlos, und außerdem ging es ja nur um die Mindestanforderungen.
Eine ähnliche Taktik wurde auch von der Bundesjustizministerin angewandt. Während der Vorbereitung der VDS wusste sie sich als Hüterin des Datenschutzes zu präsentieren und pochte (wie auch Tauss) darauf, dass Deutschland nur die Mindestanforderungen umsetzte. Weiterhin wurde sie nicht müde, in Interviews zu ergänzen, dass es sich bei der VDS ja lediglich um eine Fristverlängerung handele, da auch bisher bereits eine Speicherfrist bestünde. Neben diversen anderen Nebelkerzen ihrerseits fiel eine besonders unangenehm auf: Die Meinung, dass sich ja nichts ändere, da auch bisher schon die Daten erhoben werden würden/anfielen.
Was bei flüchtigem Lesen klingt wie: „Die Daten werden doch sowieso schon wie bei der VDS verwandt“, heißt aber etwas ganz anderes. Denn ob Daten lediglich erhoben oder auch genutzt werden, ist zweierlei. Der Bäcker, der Supermarkt, der Friseur oder der Busfahrer – sie alle haben tagtäglich meine Fingerabdrücke auf Geldscheinen, Münzen, Prospekten oder Tickets. Dennoch wäre es wohl kaum mit dem Datenschutz vereinbar, wenn hier jeder Einzelhändler seine eigene Fingerabdruckdatenbank eröffnet oder die Daten zur Verwendung freigibt.
Mit der informationellen Selbstbestimmung ließe sich ein solches Vorgehen ebenfalls nicht vereinbaren, aber was dieses, vom Bundesverfassungsgericht festgelegte Recht angeht, das durch das Urteil zur Volkszählung einem Grundrecht gleichkommt, darüber hat die Bundesjustizministerin im allgemeinen recht eigene Ansichten.
Informationelle Selbstbestimmung – das war doch gleich...?
Dass Frau Zypries auf die Frage von Kinderreportern, was ein Browser sei, keine Antwort wusste, führte zu Amüsement bis Fassungslosigkeit. Schnell wurde seitens der Bundesjustizministerin ergänzt, dass sie natürlich wisse, worum es sich handele, nur sei sie in dem Moment nicht gleich darauf gekommen.
Nun kann es sicherlich vorkommen, dass auch Politiker einen Blackout haben oder mit einer Frage überfahren werden und daher dann ahnungslos erscheinen. Sieht man sich eines der letzten Interviews an, welches Frau Zypries gab, dann kommt allerdings die Frage auf, ob denn solche Blackouts bei ihr öfter während Interviews stattfinden. Wie anders lässt sich erklären, dass die Bundesjustizministerin die informationelle Selbstbestimmung anscheinend nicht einmal richtig erläutern kann, sondern vielmehr zu einem völlig anderen Recht mutieren lässt?
Zum Vergleich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts:
Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Einschränkungen dieses Rechts auf "informationelle Selbstbestimmung" sind nur im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig.
Von dieser Möglichkeit der Selbstbestimmung bleibt bei Frau Zypries´ Interpretation des Rechts nichts mehr übrig, vielmehr mutiert diese zum reinen Auskunftsanspruch.
Aber das Recht auf informationelle Selbstbestimmung heißt ja nur, dass Bürger darüber informiert werden müssen, wer was von ihnen speichert. Das hat sich auch als Abwehrrecht gegen den Staat positioniert.
Brigitte Zypries
Im gleichen Interview wiederholt Frau Zypries auch, dass die Daten ja nur bei schweren Straftaten verwandt werden. Was faktisch falsch ist, da die Daten Ordnungsbehörden und Nachrichtendiensten auch dann zur Verfügung stehen, wenn es sich eben nicht um schwere Straftaten handelt. In diesen Fällen wird dann auch auf den richterlichen Vorbehalt verzichtet.
Die Fraktionsdisziplin und das „große Ganze“
Eine neue Dimension der Machtlosigkeit zeigten jene SPD-Abgeordneten auf, welche die VDS absegneten und dann mittels einer Erklärung nicht nur erläuterten, warum sie dafür gestimmt haben, sondern vielmehr auch die VDS (immerhin ein starker Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung) zur Sachfrage statt zur Gewissensfrage deklarierten.
Nur mit Bauchschmerzen und trotz schwerwiegender politischer und verfassungsrechtlicher Bedenken habe man dem Beschluss zugestimmt, ließen die Abgeordneten verlauten. Es sei im Hinterkopf zu behalten, heißt es weiter, dass "Freiheitsrechte wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung konstitutiven Charakter für die Existenz unseres Gemeinwesens haben und die Beachtung dieser Rechte immer wieder angemahnt wurde".
Auch den 26 Abgeordneten gegenüber sei die Frage gestattet, ob sie sich denn überhaupt mit dem Gesetz befasst haben. Denn wer sich ihre Argumente für die Zustimmung zum Gesetz ansieht, der findet ähnliche Falschaussagen wie sie auch von Frau Zypries und Herrn Tauss geäußert wurden. So fanden die Abgeordneten den Beschluss „weniger unerträglich“, weil „es den Rechtspolitikern unserer Fraktion gelungen ist, hohe Hürden für die Umsetzung dieser problematischen Restriktionen einzuziehen". Hierbei wird wieder u.a. auf den Richtervorbehalt verwiesen, sowie auf die Beschränkung der Nutzung der Daten auf „Straftaten mit erheblicher Bedeutung“. Dass diese Hürden nicht zutreffen, wurde bereits im vorigen Abschnitt dieses Artikels erläutert.
Das Fazit derjenigen, die dagegen waren, aber dafür gestimmt haben: Es sei „die Einschätzung nicht von der Hand zu weisen, dass hier ein Generalverdacht gegen alle Bürger entsteht". Aber: Eine Zustimmung sei auch deshalb vertretbar, weil in absehbarer Zeit das Bundesverfassungsgericht möglicherweise verfassungswidrige Teile für unwirksam erklären wird.
Andrea Nahles, eine derjenigen, welche diese Erklärung unterschrieben, fand auf dem Internetportal Abgeordnetenwatch eine simple Erläuterung für ihr Verhalten. Die Fraktionsdisziplin ginge eben vor, und die VDS sei ja nur eine Sach- und keine Gewissensfrage wie z.B. Krieg und Frieden:
In den Fraktionen des Bundestages gibt es folgendes Verfahren. Wer gegen eine Sachfrage ( die keine Gewissensfrage ist) eingestellt ist, kann versuchen, eine Mehrheit von seiner Meinung zu überzeugen. Es gibt dann IN der jeweiligen Fraktion eine Abstimmung. Ich bin hier mit meiner Meinung unterlegen, d.h. ich hatte keine Mehrheit. Es wird dann erwartet, dass man im Plenum die Mehrheit der Fraktion vertritt, auch wenn man persönlich eine andere Auffassung vertritt. Das gilt nicht für Fragen wie Krieg und Frieden [...].
Mein Kollege Christoph Strässer hat eine persönliche Erklärung zur Abstimmung formuliert, die meine Skepsis und meine Bedenken aufgegriffen und ausgedrückt hat. Diese habe ich unterstützt. Sie findet sich im Protokoll des Bundestages und auf meiner Homepage.
Mir ist bewußt, dass diese Erläuterungen für Menschen, die ein einfachen Ja oder Nein erwarten, nicht befriedigend sein können. Es gehört für mich jedoch zu meinem Verantwortungsbewußtsein und meinem Politikverständnis dazu, dass ich nicht nur als Individuum agiere und dass ich auch ohne mühsame Mehrheitsfindungsprozesse und demokratische Spielregeln nicht wirklich Politik gestalten kann. Ich kann nur versuchen Ihnen dies zu erläutern.
Andrea Nahles
Ein wenig gereizt reagiert Nahles dann auf eine Nachfrage, inwieweit sich solches Gebaren mit dem Artikel 38 des Grundgesetzes vertrage, welches postuliert, dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen unterworfen sind:
[...] was haben sie sich denn gedacht wie die Mehrheitsfindung, die nunmal unerläßlich ist in einer stabilen!!!!! Demokratie ist, funktioniert? Es ist nie einfach so eine Abwägung zu treffen, dass dürfen sie mir glauben. Aber ich stehe dazu, dass ich nicht nur Einzelfragen, mich selbst mit meiner Meinung in die Waagschale einer solchen Frage werfe, sondern das sog. 'Große und Ganze'.
Andrea Nahles
Die bisherigen Fragen zum „großen Ganzen“ münden dann in den Kommentar:
Ich bin mir der Sensibilität dieses Themas sehr bewusst und bürgerliche Freiheitsrechte sind mir, wie allen anderen, die mir zu diesem Thema in diesem Forum schreiben, genauso wichtig. Mir Anderes zu unterstellen, weise ich zurück! Verantwortung und somit den Blick "aufs Große und Ganze" habe ich überdies nie gescheut und wurde oft dafür gescholten, denn Verantwortung übernehmen, schließt regieren und entscheiden zu wollen ein, was andere auch falsch finden können!
Andrea Nahles
Verantwortung zu übernehmen, heißt also insofern, einen Entschluss mit zu tragen, welchen man falsch findet, da er „weniger unerträglich“ als gedacht ist, und „Karlsruhe sich schon drum kümmern wird“ (lapidar ausgedrückt). Die Fraktionsdisziplin, verbunden mit den EU-Vorgaben, degradiert also die Abgeordneten zu reinen Abnickpolitikern, die nicht mehr dem Gewissen, sondern lediglich der Fraktion/der EU gegenüber verpflichtet sind – so jedenfalls der Tenor der Aussagen von Frau Nahles und Herrn Tauss.
Ich wusste ja gar nicht, was ich unterschrieb
Während diese Halbwahrheiten und Machtlosigkeitsmanöver schon zu wahlweise Entsetzen, Frustration und Resignation führen, ist das Verhalten des ehemaligen Staatssekretärs Diwell dann nur noch ein zusätzliches Sahnehäubchen. Diwell, der unter Schily die umstrittene Dienstanweisung zur Onlinedurchsuchung unterzeichnete, gibt als Grund hierfür mittlerweile an, er habe ja nicht gewusst, dass es um Onlinedurchsuchungen ging, sondern sei davon ausgegangen, es ginge um die Beobachtung von abgeschotteten Internetforen.
Nun stellt sich die Frage, warum man eine solch heikle Dienstanweisung unterzeichnet, wenn man nicht genau weiß, dass „die Ausforschung informationstechnischer Systeme" weit mehr bedeuten kann, als nur das Beobachten eben jener Internetforen. Aber Herr Diwell spricht nicht nur davon, dass er eigentlich gar nicht recht wusste, was er unterschrieb – er geht noch einen Schritt weiter.
Nach seinem Ressortwechsel fühlt er sich nicht mehr sachlich zuständig für die Angelegenheit und wird insofern auch nicht vor die Abgeordneten des Bundestages treten, um sich dort dafür zu rechtfertigen. Einer entsprechenden Aufforderung wird er nicht nachkommen. Weshalb Herr Diwell, der sich sachlich nicht zuständig fühlt, erst vor kurzem an die Öffentlichkeit trat, um Vorschläge bezüglich der Onlinedurchsuchung zu machen. Hier war der Justiz-Staatssekretär sachlich so firm, dass er auch zwischen „laufender, mit Verschlüsselung und Passwörtern geführter Online-Kommunikation“ und "geronnener Kommunikation" im Sinne von „auf Festplatten abgelegten Mails und Chat-Protokollen“ zu unterscheiden wusste, als es um die Onlinedurchsuchung ging.
Was aber seine Weigerung gegenüber dem Bundestag angeht, so stellt sich dem Bürger die Frage, welche Folgen eben diese haben wird. Nun – da sich die große Koalition dagegen ausgesprochen hat, Diwell erneut zu laden, und der Bundestag kein Zitierrecht hat, wird die Angelegenheit als „unwürdiger Vorgang im deutschen Parlament“ abgeschlossen.
Zusammengefasst haben wir also Staatssekretäre, die einerseits zwar in der Öffentlichkeit mit vermeintlichem „Fachwissen“ glänzen, sich andererseits aber nicht zuständig fühlen, wenn es darum geht, Fragen des Bundestages zu früherem Verhalten zu erläutern oder dafür Verantwortung zu übernehmen. Weiterhin haben wir Abgeordnete, die trotz schwerwiegender verfassungsrechtlicher Bedenken einem Gesetz zustimmen, weil es die Fraktionsdisziplin verlangt oder aber weil die EU nun einmal verlangt, dass das Gesetz in Deutschland verabschiedet wird.
Und nicht zuletzt haben wir eine Bundesjustizministerin, die einen seltsamen Umgang mit der Wahrheit pflegt und möglicherweise nicht weiß, was „informationelle Selbstbestimmung“ ist. Egal ob man diesen Abgeordneten dann Abnickertum oder Heuchelei, Unwissen oder Lügen vorwirft – durch dieses Verhalten werden die Vorurteile gegenüber den Politikern noch einmal gefestigt. Nein, vielmehr stellt man fest, dass es keine Vorurteile sind.
Die Politik lässt zunehmend die Maske fallen und gibt sich nicht einmal mehr Mühe, ihre Dreistigkeit zu verschleiern. Es ist, als würde man dem Bürger sagen wollen, dass es sowieso egal ist, was er denkt. Vor einiger Zeit gab man sich wenigstens noch Mühe, so zu wirken, als würde man wissen, was man tut, oder als würde man das Volk vertreten. Heutzutage lügt man offen oder gibt sein Gewissen für die Fraktionsdisziplin ab. Oder man hatte eben keine Ahnung, was man tat. Wer sich dann noch über Politikverdrossenheit wundert, der muss wirklich sehr verblendet sein.