Unzurechnungsfähige Kannibalen im sexuellen Wahn

Seite 2: Narzisstische Euphorie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Opfer realisiert nicht, dass es wirklich stirbt?

Lorenz Böllinger: Das halte ich für eine mögliche Variante. Eine andere Variante ist denkbar, die scheint mir aber eher noch entlegener, dass nämlich das Opfer ganz bewusst den Tod sucht. Ich halte das aber in diesem Wahn für sehr unplausibel. Das ist bei beiden Beteiligten eine narzisstische Euphorie, die da stattfindet.

Das Opfer begeht keinen Bilanzselbstmord. Wenn überhaupt, dann kann hier nur eine Größenphantasie zum Tragen kommen, die auch geeignet ist, einen Selbstmord zu begründen, nämlich als Triumpf über die Außenwelt, der Triumpf über die Realität; die Fähigkeit nämlich, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen und zu beenden. Das erzeugt ein letztes Hochgefühl, eine Grandiosität, ein gottgleiches Gefühl.

Mich interessiert, inwieweit eigentlich die Realisation eines solches Verbrechens erotische Empfindungen auslösen kann? Wenn ich mir vorstelle, ich sitze vor einer zerfleischten Leiche, das muss doch grausig sein?

Lorenz Böllinger: Für uns Normalmenschen ist das kaum vorstellbar. Aber wir können an Phantasien anknüpfen, die noch im normalen Spektrum vorkommen. In der Sexualität gibt es ja auch einen Schmerzanteil. Wenn man sich das nun ins Pathologische gesteigert vorstellt, dann ist es durchaus nicht mehr so unvorstellbar, dass das Ultimative, nämlich das Opfer zu töten und zu zerstückeln, dann auch ein Maximum an momentaner sexueller Lust beinhaltet. Der Kater, der narzistische Zusammenbruch, der kommt in der Regel erst hinterher.

Er kommt vielleicht sogar erst, wenn die Kannibalen erwischt werden und dann gewissermaßen aufwachen. Das kann auch sein, dass der Kater am nächsten Morgen schon kommt, wenn das Opfer im Blut liegt und anfängt, zu verwesen. Das sind dann schon denkbare Punkte, an denen das Geschehen in eine schreckliche Depression umschlagen kann. Aber dieses Hochgefühl kann sehr wohl diesen Todeszeitpunkt überdauern.

Wie gefährlich sind solche Kannibalen und für die Gesellschaft?

Lorenz Böllinger: Zunächst einmal glaube ich, dass Kannibalismus ein äußerst seltener Fall ist. Zweimal im Jahrhundert kommt sowas vor. Auch wenn wir viele haben, die über das Internet an diesen Phantasien partizipieren, so können wir damit rechnen, dass die Persönlichkeitsstörungen bei denen nicht so ausgeprägt sind, dass sie es wirklich tun würden. Sie erledigen das über diese heftigen Phantasiespiele. Also in sofern denke ich, die Gefahr ist gering. Wir müssen als Kriminologen in Statistiken rechnen. Wir müssen sagen, in einer Gesellschaft von 80 Millionen ist das Risiko, in irgendeiner Form Opfer eines solchen Menschen zu werden, extrem gering.

Therapeutischer Prozess möglich

Sie betonen das Wahnhafte. Inwieweit sind solche Leute therapiefähig?

Lorenz Böllinger: Ich glaube, dass diese Menschen, wenn sie selber bereit sind, nach Ablauf einer Zeit, in der ihre Symptome dann nicht mehr in der Lage waren, zu stabilisieren, allmählich therapiefähig werden. Es kommt auch in manchen Fällen über Gerichtsverfahren zu einer Therapieweisung, so zu einer erzwungenen Therapie. Ich halte das nicht für falsch. Ich glaube, selbst dann gelingt es auf die Dauer, in vielen Fällen eine Therapie wirksam werden zu lassen. Voraussetzung ist allerdings, dass man Zeit hat.

Das Entscheidende ist erstmal, dass jemand vielleicht auch mit Zwang in die Therapie kommt, regelmäßig kommt und zunehmend mit der Realtität konfrontiert wird. Dass er in die Lage versetzt wird, das Wahnhafte in seinem ganzen Leben endlich selber zu verstehen und zu durchschauen und dann allmählich auch aufzugeben, zugunsten von besseren sozialen Beziehungen. Das dauert sehr lange. Die Gefühle sind entscheidend. Sie werden von sehr sadistischen Affekten gesteuert, und das lässt sich nicht vom Kopf her abschalten. Das geht nur über eine korrigierende Erfahrung, in der sie spüren, dass der andere ein Mensch ist, und das sie den verletzen, wenn sie sich an ihm vergehen.

Diesen therapeutischen Prozess halte ich für möglich. Ungefähr in 50 Prozent aller Fälle kann das zu einer wesentlichen Verbesserung führen. Man muss mindestens fünf Jahre rechnen, damit therapeutisch überhaupt etwas in Gang kommt. Und meiner Einschätzung nach muss man bis zu 10 Jahren rechnen, um einen maßgeblichen Prozeß der Strukturveränderung zu bewirken. Aber ich halte es für aussichtsreich. Und deswegen muss man das versuchen; nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch aus Opferschutzgründen.

Gilt das für jedes Alter?

Lorenz Böllinger: Man kann schon sagen, je älter so ein Straftäter oder auch Perverser ist, desto schwieriger ist es, mit der Therapie einzusetzen. Das ist keine Frage, weil sich die Charakterstruktur immer mehr verfestigt. Um so mehr muss man dafür plädieren, bei solchen Fällen frühzeitig aufmerksam zu werden. Leider operiert unsere Strafjustiz sehr stark gegen diese Erkenntnis, indem sie mit aller Macht versucht, solche Menschen für voll schuldfähig zu erklären und sie so lange wie möglich im Knast wegzuschließen. Irgendwann nach 15 Jahren oder so kommen die dann doch raus, und dann ist es immer noch früh genug für gefährliches Ausagieren, weil die Triebimpulse damit beileibe noch nicht erledigt sind.