Unzurechnungsfähige Kannibalen im sexuellen Wahn

Ein Interview mit dem Kriminologen und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger

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Kannibalismus ist im Internet nach wie vor präsent; als eine Form der Todessehnsucht und als sexueller Fetisch

Im Jahre 11 nach dem spektakulären Mord an Jürgen Brandes, dessen Leiche der Kannibale A. M. zum Teil verspeist hat, liest man wieder frische Texte von Leuten, die sich zum Fressen gern haben. In aller Regel ist das ungefährlich, denn die Szene weiß sehr wohl und respektiert es auch, dass man einen Menschen nicht töten darf. Eine Szene, die im Grunde nicht negativ bewertet werden sollte, denn sie ermöglicht wenigstens zum Teil eine Sublimierung dieser Neigungen, also eine Verarbeitung von Gewaltphantasien.

Das sagt der Bremer Kriminologe und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger, inzwischen emeritierter Professor für Strafrecht und Kriminologie, der seit 1999 als approbierter Psychotherapeut tätig ist. Zu seinen Schwerpunkten gehört die kontinuierliche forschende Praxis in der psychotherapeutischen Behandlung von Gewalt-, Sexual- und Drogenstraftätern. Dem gemeinnützigen "Forum für Angewandte Sexualwissenschaft" gehört er als Vereinsvorsitzender an. Dieses Forum ist der Träger der klinischen Beratungsstelle für Sexualdelinquenz in Bremen.

Teil der normalen Phantasiewelt des Menschen

Herr Professor Böllinger, wie passen sexuelle Gelüste und Kannibalismus zusammen?

Lorenz Böllinger: Erstmal muss man sagen, dass jeder Sexualstraftäter seine eigene Geschichte hat, und dass man dann im Nachhinein, nach einer Tat und bestenfalls nach einer längeren Behandlung, genauer sagen kann, warum. Im Allgemeinen lässt es sich durchaus verstehen und erklären, warum ein Individuum zu manchmal entsetzlichen Taten gekommen ist. Das hat in der Regel lebensgeschichtliche Traumatisierungen zum Hintergrund, die dann zumeist auch schon in der frühesten Kindheit passiert sind. Das kann man allgemein sagen. Aber man müsste in jedem einzelnen Fall natürlich versuchen, zu entschlüsseln und zu analysieren, wie es dazu kam.

Können Sie ein Beispiel schildern?

Lorenz Böllinger: Ich denke an Vergewaltigungstäter, bei denen sehr viele sadistischen Phantasien schon früh im Leben eine Rolle gespielt haben. Und hier kann man gut studieren, wie doch ziemlich allgemein im Hintergrund ein Ohnmachtssyndrom steht, ein ganz elementares Gefühl von Ausgeliefertheit, von Alleingelassensein, vernachlässigt werden oder auch missbraucht werden; benutzt werden für die Bedürfnisse von Erwachsenen, in der Regel von Elternteilen oder auch Pflegepersonen. Und diese ursprüngliche Ohnmacht, die wird im ganzen Leben immer wieder empfindlich als lebensbedrohlich gespürt und erlebt, und bewirkt Abwehrmechanismen; bewirkt, dass das Individuum versucht, sich durch irgendwelche Lebenstechniken, durch irgendwelche Abenteuer, durch irgendwelche spannenden, erregenden, lebensspendenden Erlebnisse zu erhalten. Sich ein Gefühl zu geben, dass es einen Sinn im Leben gibt.

Es sind Versuche der Depressionsbekämpfung. Es sind Versuche, die drohende Auflösung der Persönlichkeit, einen Zerfall in die Psychose, gleichsam aufzuhalten. Das sind also in der Regel Überlebensmechanismen. Auch wenn sie uns noch so schrecklich erscheinen, so haben sie aus der subjektiven, unbewußten Sicht dieser Menschen durchgängig die Funktion, etwas noch schlimmeres zu verhüten.

Menschenfresserei ist ja eigentlich ziemlich unglaublich?

Lorenz Böllinger: Alle psychischen Störungen lassen sich auf einem Spektrum zwischen "normal" und "extremer Perversion" oder Pathologie einordnen, also psychischem Leiden. Das bedeutet, dass alle Menschen in den Perversionen elementare Aspekte ihrer eigenen Phantasien wiederfinden könnten. Die sadistischen Anteile oder die exhibitionistischen Anteile, die uns als Straftaten oder als Perversionen auffällig werden, sind im Grunde ein Teil der normalen Phantasiewelt des Menschen. Sie sind nur in unterschiedlichem Maße von den Menschen verarbeitet, bewältigt, verdrängt, teilweise auch verleugnet worden.

Das heißt also, im Grunde sind sie alle als Phantasie bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar. Wenn uns das dann als Empörung, als Entsetzen, als Ekel anmutet, ist das nur ein Hinweis darauf, dass vieles von dem, was uns vielleicht früher einmal beschäftigt hat, in einer günstig verlaufenden Entwicklung abgewehrt und verdrängt werden konnte. Es gibt nun Individuen, die aufgrund von Traumatisierung in ihrer Lebensgeschichte diese Bewältigung, diese Verarbeitung solcher universellen und allgemeinen vorhandenen Phantasien nicht geschafft haben. Bei denen diese Phantasien immer wieder durchbrechen, und dann aufgrund ihrer Verbindung mit Sexualität, also mit Lust, mit intensiven Selbst- und Körpererleben geeignet sind, in eine Art Spannung, Erregung einen Thrill, ein Gefühl der Lebenslust zu vermitteln. Und das genau ist beim Kannibalismus der Fall.

Wie kann man sich das vorstellen?

Lorenz Böllinger: Also, die menschliche Lust stammt aus ursprünglichen Empfindungen von Befriedigung von Hungergefühlen und Abwehr von Angst. Alle Menschen haben irgendwann mal Angst erlebt, wenn sie alleine gelassen worden sind. Und diese Befriedigung, wenn das Gefühl der Bedrohung aufhört, das ist erstmal eine Gesamtlust, die wir alle empfinden, und daraus differenziert sich dann allmählich eine spezifische sexuelle Lust heraus. Aber diese sexuelle Lust ist gewissermaßen auf frühere Lustgefühle drauflegbar. Man kann sie miteinander assoziieren. Und vor allem schafft die sexuelle Lust ein intensives Körpergefühl. Sie ersetzt fehlende Identität, sie ersetzt das Stabilitätsgefühl. In diesem Sinne eignet sich Sexualisierung und lässt sich mit allen möglichen intensiven anderen Reizen verknüpfen.

Die Phantasie, einen anderen Menschen zu essen, ist ja in der Regel verknüpft mit der Zerstückelung dieses Menschen. Und da verknüpfen sich eben grausame Vorstellungen mit sexuellen Phantasien. Das geschieht so, dass die Zerstückelung als äußerste Form der Vernichtung eines anderen ein Allmachtsgefühl verschafft, und das diese Allmacht dann wiederum mit der Phantasie verknüpft wird, den anderen, dessen starke Anteile sozusagen, in sich hineinzunehmen. Das kommt ja im Übrigen auch in den Naturvölkern durchaus sozial integriert vor, das war früher einmal eine ganz bewußte Ideologie bei Kannibalen, dass die Verinnerlichung des Feindes einem eben dessen Stärke vermittelt.

Sublimationseffekte

Es gibt nun nicht nur Täter, die Menschen zerstückeln und deren Fleisch essen. Es gibt auch vermeintliche Opfer, die dazu auffordern, zerstückelt zu werden..

Lorenz Böllinger: Die Rollen sind wie bei allen Perversionen austauschbar. Das heißt, dass der Täter immer wieder das Negativ vom Opfer ist und umgekehrt. Das zeigt sich zum Beispiel in der sadomasochistischen Subkultur, dass durchaus manche Menschen die Rollen wechseln können. Auf der anderen Seite ist eine Rolle immer auch eine Stellvertretung für den anderen. Also, wenn einer die sadistische Rolle hat, dann vertritt er damit gleichsam auch die sadistischen Komponenten, die ein anderer in sich hat.

So ähnlich verhält sich das beim Kannibalismus. Es braucht gewissermaßen für die Realisierung dieser schrecklichen Perversion ein Gegenüber, einen masochistischen Teil, der das mit sich machen läßt. Die meisten handeln das auf der Phantasieebene ab. So wie die sadomasochistische Subkultur eine dadurch relativ hilfreiche Institution ist, weil deren Anhänger in der Lage sind, sich durch das Ausagieren ihrer Phantasien ein Stück weit wechselseitig psychisch zu stabilisieren.

Wie schätzen Sie diese Webseiten ein, auf denen sich solche Kannibalen und deren Opfer austauschen?

Lorenz Böllinger: Ich würde grundsätzlich sagen, dass es wie bei allen Perversionen solche Subkulturen gibt, und das die im Grunde nicht negativ sind. Das klingt vielleicht jetzt paradox, aber sie haben einen Sublimationseffekt. Sie ermöglichen es denen, die in der Phantasie sehr mit diesen Fixierungen zu tun haben, eine Verarbeitung. Es schließt nur nicht aus, dass es überall eine Restgruppe gibt, und die halte ich für sehr klein, der das nicht genügt, das auf diese Weise zu sublimieren. Wir kennen ja Sublimationsmöglichkeiten.

Die fangen für Normalmenschen im Fußballstadion an, wo Aggressionen abgeführt werden können, stellvertretend darüber, dass sich andere kloppen. Das kann sich steigern über diese perversen Subkulturen, wo das bis zu einem gewissen Grade spielerisch und konsensuell ausagiert wird. Im Extremfall mündet das aber bei Menschen, wo das nicht mehr genügt, in tatsächliche Realisierung solcher Phantasien. Das hängt jetzt aber nicht etwa mit diesen Internetangeboten oder auch mit Horrorfilmen oder dergleichen zusammen, sondern es ist umgekehrt.

Die Menschen, die eine solche Pathologie haben, die suchen sich Kanalisierungen für ihre Krankheit. Und eine Möglichkeit ist eben das Internet. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass das Internet in diesem Sinne ursächlich wirkt. Es wird von denen, die so gestört sind, dass sie das brauchen, benutzt. Und darunter gibt es einige ganz wenige, für die das nicht genügt, und die dann weitergehen. Ich behaupte, dass sie das auch tun würden, wenn es das Internetangebot nicht gäbe. Sie würden Wege finden, in denen sie das irgendwie ausagieren können. Es mag sein, dass über das Internet manches vereinfacht wird. Wenn jemand diese Disposition hat, dann wird er über Internet eher in der Lage sein, einen Kontakt zu finden. Aber es gab früher auch schon Möglichkeiten, Opfer zu finden oder Kontakte zu knüpfen in solchen irgendwie gearteten Subkulturen.

Wahnsinn zu zweit

Wie kann man als Therapeut reagieren?

Lorenz Böllinger: Zunächst mal ist es schwierig, weil Menschen mit sexueller Perversion einen erheblichen Lustgewinn aus ihrer Symptomatik ziehen. Sie leugnen in der Regel zunächst, dass es überhaupt eine Krankheit ist, und dass sie Symptome haben, die behandlungsbedürftig sind. Das macht die Sache besonders schwierig. Aber es gibt doch viele Fälle, wo die Menschen mit der Zeit merken, dass ihnen diese Symptome nicht mehr weiterhelfen, das sie nur vorübergehend zur psychischen Stabilisierung in der Lage waren. Und dann, wenn die Störung nicht extrem schlimm ist, gelingt es ihnen früher oder später doch, eine Therapie aufzunehmen.

Das findet man bei vielen in der sadomasochistischen Subkultur, wo das langjährige Spielen einer Rolle zwar zeitweilig stabilisiert hat, aber dann allmählich nicht mehr ausreicht. Und dann irgendwann kommen die zu einem Punkt, dass sie doch um Behandlung nachsuchen. Ich würde sagen, ungefähr 50 Prozent dieser Menschen kommen irgendwann zu diesem Punkt.

Aber bei diesen ganz schwer Gestörten, bei denen das so impulshaft durchbricht, oder wo sich das immer mehr verselbständigt zu einer ganz fixen Idee, ein bestimmtes Extrem verwirklichen zu müssen, zum Beispiel eben diesen kannibalistischen Mord, da wird das zu einer Idee, die sie tagaus, tagein beschäftigt. Und man muss mutmaßen, dass das eben auch wiederum diese stabilisierende Funktion hat, eine Erleichterung. Fatalerweise kann eine Zweierdynamik, ein Wahnsinn zu zweit, eine folie à deux dazukommen.

Wenn sich ein Kannibale und ein Opfer gefunden haben, können sich beide gegenseitig in diesem Wahn hochsteigern, in diesem phantastischen sexualisierten Wahn, sich umzubringen. Ich glaube, dass dann bei beiden ein Realitätsverlust einsetzt. Dass sie dann beide nicht mehr zurechnungsfähig sind. Dass sie beide nicht wissen, dass es wirklich um Leben und Tod geht, sondern dass sie beide in einem wahnhaften Spiel befangen sind und das sich tatsächlich die masochistische Lust bei dem Opfer soweit steigert, dass es nicht realisiert, dass es wirklich sterben wird.