Urteil gegen Weimarer Familienrichter: Jurist mit Gewissen oder "Querdenker" in Robe?
Haft auf Bewährung wegen Aufhebung der Maskenpflicht an Schulen. Dabei hat selbst der Gesundheitsminister Fehler in der Corona-Zeit eingeräumt. Wäre es nicht Zeit für eine Amnestie?
Zwei Jahre Haft, ausgesetzt zur Bewährung – so lautete das Urteil gegen einen Weimarer Familienrichter, der im April 2021 bundesweit für Schlagzeilen sorgte, weil er in zwei Fällen die damals geltende Maskenpflicht an Schulen aufgehoben hatte. Diese Entscheidung sorgte auf dem Höhepunkt der Pandemie für Aufregung.
Für einen großen Teil der Medien und Staatsapparate war der Jurist schnell ein "Querdenker" in Richterrobe. Für die Kritiker der Corona-Maßnahmen hingegen wurde der Richter als mutiger Mann, der seinen Gewissen folgte, glorifiziert. Diese beiden Positionen gibt es bis heute, wie sich bei der Urteilsverkündung zeigte.
Die Anhänger des Richters riefen "Freiheit, Freiheit", während der Staat mit dem Urteil einmal mehr deutlich machte, dass er weiterhin gegen Menschen vorgeht, die in Zeiten, in denen Gehorsam gefordert wird, auf eigene Positionen beharren. Für dieses Vorgehen wurde ein enormer Aufwand getrieben. In Vorbereitung der Anklage wurden die Privat- und Diensträume sowie das Auto des Richters durchsucht – und auch die Anwälte des Mannes hatten mit Repressalien zu kämpfen.
Der bürgerliche Staat griff also offen in die viel beschworene richterliche Unabhängigkeit ein, die eigentlich zu den Instrumentarien des Wertewestens gehört, wenn es darum geht, missliebige Regierungen zur Räson zu bringen.
Wie wurde der Richter zum Rechtsbeuger?
Der Fall ist auch deshalb bemerkenswert, weil es nun schon häufiger Urteile gab, die große Teile der Öffentlichkeit oder auch der Staatsorgane mindestens befremdeten. Oft wurden sie in der nächsten Instanz wieder aufgehoben, ohne dass es negative Folgen für den jeweiligen Richter hatte.
Warum wurde im Fall des Weimarer Familienrichters anders verfahren? Der Richter stellte am Mittwoch bei der Urteilsbegründung klar, dass der Familienrichter nicht wegen Amtsanmaßung verurteilt wurde. Denn ob er als Familienrichter in diesem Fall zuständig war, ist gar nicht so eindeutig, wie große Teile der veröffentlichten Meinung behaupten.
Auch seine Corona-Kritik hätte nicht für das Urteil ausgereicht. Wohl aber der Vorwurf der Parteilichkeit. Nun richtet sich dieser Vorwurf häufiger gegen die Justiz und auch nicht immer unbegründet. Wer die Urteile von gutbürgerlichen Richtern gegen einkommensarme Menschen liest, die Mietschulden haben oder ohne Ticket in Bussen und Bahnen gefahren sind, kann hier von einer strukturellen Voreingenommenheit sprechen.
Die ist aber nicht strafrelevant. Die Parteilichkeit des Weimarer Richters wird nun damit begründet, dass er zunächst selbst an Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen teilgenommen hatte – und es dann schnell unterlassen hat, weil er meinte, als Richter mehr dagegen bewirken zu können. Dann habe er gezielt Eltern gesucht, die eine Klage einreichen wollten, entsprechende Fragebögen entwickelt und sei auch bei den Gutachten einseitig gewesen.
Selbst, wenn diese Vorwürfe stimmen, ist aber damit das Urteil noch nicht gerechtfertigt. Ist es nicht auch ein Ausdruck der Parteilichkeit, wenn man dem Richter vorwirft, nicht mehr an Protesten gegen die Corona-Maßnahmen teilgenommen zu haben?
Könnte man ihm das nicht auch zu seinen Gunsten auslegen, dass er darauf verzichtete, weil er nicht als parteilich gelten wollte?
Und was soll der Vorwurf, Gutachten herangezogen haben, die die eigene Position bestätigen? Das geschieht sehr häufig auch vor Gericht und der Begriff "Gefälligkeitsgutachten" ist ein geflügeltes Wort. Es ist noch nicht so lange her, da ging der Fall eines solchen Gefälligkeitsgutachters für die Abschiebepolitik durch die Medien. Er hatte geflüchteten Menschen Ausreisefähigkeit bescheinigt, die gar nicht gegeben war. Von einem Urteil gegen ihn hat man nicht gehört.
Politischer Prozess und hochpolitische Begründung
Nein, das Urteil gegen den Weimarer Richter ist immanent politisch, vor allem wegen der reaktionären Begründung. Denn da wird mit dem Begriff der Unabhängigkeit und Neutralität eine Bejahung des Status Quo verbunden – und wer es unternimmt, dagegen mit den Mitteln der Justiz vorzugehen, ist dann gleich ein Rechtsbeuger.
Von diesem Bild eines Richters als staatlicher Untertan haben alle die geträumt, die nach 1968 den "Marsch durch die Institutionen" der außerparlamentarischen Bewegung verhindern wollten. Denn auch damals hatten Menschen den Anspruch, mit den Mitteln des Rechts gegen Ungerechtigkeiten, Rassismus, Antisemitismus etc. vorzugehen.
Über manche dieser Richterinnen und Richter – vor allem, wenn sie aus den USA kommen – gibt es heute Filme, die diese Juristen würdigen. Das bedeutet nun nicht, dass dieser Weimarer Familienrichter auf die gleiche Stufe gestellt werden sollte. Er hat sich nie deutlich vernehmbar von den rechten und irrationalistischen Teilen seiner Unterstützer distanziert.
Diese Verknüpfungen aber sind ein großes Problem – nicht nur in seinen Fall. Erst vor wenigen Monaten, wurde eine Schöffin ihres Amtes enthoben, der auch vorgeworfen wurde, an Protesten gegen die Corona-Maßnahmen teilgenommen zu haben, aber zudem noch im rechten Spektrum aktiv gewesen zu sein.
Über die Sinnhaftigkeit von Masken in Schulen – wie manch andere der Maßnahmen in der Hochphase der Pandemie – sollte weiter gestritten werden. Schließlich hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Fehler in dieser Zeit eingeräumt. Wäre es da nicht Zeit für eine Amnestie, durch die gewaltfreie Handlungen im Kontext der Proteste gegen die Corana-Maßnahmen straffrei bleiben?
Denn die von Lauterbach genannte Begründung, dass man damals vor einer völlig neuen Situation stand, die viele überfordert habe, gilt für Gegner und Befürworter der Maßnahmen gleichermaßen. Es wäre sinnvoll, wenn darüber noch gestritten werden kann, ohne Polizei und Justiz hinzu zu ziehen.
Der Autor war Mitherausgeber des Buches "Corona und die linke Kritik(un)fähigkeit