Utopien aufsammeln und dafür Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln

Seite 5: Bilderlosigkeit und Urteilsvermögen: Optionen für die Zukunft?

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Sie würden also weiter am Bilderverbot festhalten? Aber können die Menschen überhaupt so bilderlos leben und in die Zukunft schreiten? Muss das für ein Aufklärungsprojekt, wie es die Moderne ins Leben gerufen hat, nicht erschreckend sein, wenn es weder ein Programm noch ein Ziel besitzt?

Oskar Negt: Die neue Gesellschaft kann man sich nicht aussuchen. Es ist objektiv ungewiss. Was wir machen können - und hier komme ich auf meinen Phantasiebegriff zurück - ist die Erweiterung unserer Urteils- und Phantasiefähigkeit dafür, wie mit neuen, überraschenden Situationen besser umzugehen wäre. Je starrer und reduzierter ein Mensch in der Wahrnehmung der Realität ist, desto bornierter sind die Antworten. Das möchte ich auch geschichtlich sehen.

Die Menschen haben ihre eigenen Bilder. Ich möchte mir die Bilder von einer Gesellschaft, in der ich leben soll, nicht vormachen lassen. Mir wäre dabei unbehaglich. Ich möchte mir mein eigenes Bild machen. Natürlich müssen diese verschiedenen Bilder zusammenkommen. Hier entstünde wieder die Frage nach der Bildung des Gemeinsinns, des Unterscheidungsvermögens und der politischen Urteilskraft. Wenn es uns gelänge, uns selber und andere so zu bilden und zu erziehen, dass sie selbständig urteilen und unterscheiden könnten und nicht einfach falsche Kausalitäten herstellten, dann wäre ich nicht mehr so besorgt. Unvorhergesehene geschichtliche Konstellationen, selbst Zusammenbrüche, könnten besser bewältigt werden. Starre Prinzipien blockieren dagegen die Erfahrungsfähigkeit der Menschen.

Daher kommt auch die Abneigung, Fremdes auf sich zu nehmen. Die Ausgrenzung des Fremden ist ein Akt der Angst, die Identität zu verlieren. "Deutschland den Deutschen" heißt: Ich habe so große Schwierigkeiten mit meiner Identität, dass ich diesen Satz gerade noch akzeptieren kann. Damit wird aber kein einziges Problem gelöst. Was soll sich für diese Jugendlichen verändern, wenn kein Ausländer mehr hier ist? Die Vermischung von Kausalitäten ist eine gefährliche Sache.

Deshalb gilt: Die Fähigkeit zur Bildung eines eigenen Urteils ist Bedingung für die Produktion eigener Bilder von der vergangenen und kommenden Welt. Erst durch sie wird die gegenseitige Anerkennung nicht zerstört; und erst durch sie werden gewisse Toleranzen im Umgang mit anderen gesichert. Die Garantie für die würdige Existenz des Andersdenkenden entsteht und besteht, wo identifizierendes, also gleichmachendes Denken überhaupt nicht, Differenzierungsvermögen dagegen aber existiert.

Mit der Forderung nach der Produktion "massenhaften Unterscheidungsvermögens", ebenso mit dem Eintreten für das Offenhalten von Differenzerfahrungen hat es aber meiner Meinung nach so seine Bewandtnis. Zum einen hat es die Urteilskraft in einer Welt, in der die Strategie des Lügens zur allgemeinen Haltung geworden ist, immer schwerer, sich zu behaupten. Und zum anderen entsteht neben der hinreichend diskutierten Kontingenzerfahrung das bekannte Konsensproblem. Denn mit der Einführung von Unterscheidungen wird unfreiwillig auch die Verallgemeinerungsfähigkeit von Programmen oder Konzepten unterminiert und in Zweifel gezogen. Von einem anderen Standpunkt aus mit anderen Unterscheidungen stellt sich der beobachtete Sachverhalt auch ganz anders dar.

Oskar Negt: Letzteres ist ein Problem Luhmanns, ein Problem seines Denkens. Für die Alltagspraxis ist die Unterscheidungsproblematik auf der Ebene verschiedener Beobachter irrelevant. Ein Mensch, der imstande ist, zwischen objektiver Arbeitslosigkeit und ihrem Systemgrund auf der einen Seite und den betroffenen arbeitslosen Menschen auf der anderen Seite zu differenzieren, macht sich automatisch Gedanken über das Allgemeine. Urteilsfähigkeit bedeutet immer Rückbezug auf ein Drittes. Sie ist keinesfalls in dieser spaßigen Form von Luhmann zu nehmen. Der Weg zum Allgemeinen bedarf keines Zugangs zu Luhmanns Systemtechnik. Die Allgemeinheitsgrade sind verschieden bei einfachen Menschen.

Was nun die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen wahr und falsch, richtig und falsch angeht, so handelt es sich um einen vielschichtigen Vorgang. Dieser fängt in der Familie an und setzt sich in der Schule fort. Nicht zufällig beschäftige ich mich mit Arbeitsprozessen in der Schule. Die Schule ist trotz allem noch ein institutioneller Ort, in dem etwas anderes gemacht werden kann, das nicht bruchlos den Linien der Macht folgt. Zu Hause gibt es augenblicklich keine Kontrolle, wieviel Zeit die Kinder vor dem Fernseher verbringen.

Sobald Kinder jedoch Umgang mit anderen Kindern haben, schalten sie den Fernseher ab. Das lustbetonte Spiel und Lernen mit anderen erlaubt eine hinreichend bessere Grundlage für die Kritik am Fernsehen als irgendwelche Verbote. Genauso verhält es sich an der Universität. Wenn ich den Studenten nichts abverlange, sie nicht fordere, kann sich auch kein Urteilsvermögen bilden. Seit zwanzig Jahren mute ich meinen Studenten die härtesten Sachen zu. Ich mache vierstündige Vorlesungen und behüte sie auch nicht davor, sich mit Kant zu beschäftigen. Meine Erfahrungen besagen: Der größte Teil der Menschen ist intellektuell unterfordert.

Keine intellektuelle Kleingeschichten produzieren

1972 haben Sie der linken Intelligenz die Übersetzungsarbeit soziologischen Wissens für breitere Bevölkerungsschichten zugewiesen; 1981 haben Sie ihre "Proletarisierung" beschrieben und der Intelligenz die Mitverantwortung bei der Produktion von Ideologien und der Herstellung von Destruktionskräften vorgeworfen; 1992 wollen Sie die Intellektuellen auf eine "Ferne-Ethik" (H. Jonas) verpflichten. D.h. konkret: Die Intellektuellen sollen in ihren Äußerungen "Verantwortung für das übernehmen, was in der Ferne passiert, um nicht zu bloßen Mitläufern der Realität zu werden".

Wie kann man sich die Entwicklung dieser "Ferne-Ethik" vorstellen, wenn durch das elektronische Bild der Blick für die Ferne verschwindet, das Ferne nah wird und uns auf den Leib rückt?

Oskar Negt: Sie haben recht. Im Grunde wird durch die Medienrealität eine suggestive Nähe, aber auch Gleichzeitigkeit der Ereignisse hergestellt, die diese Verantwortung problematisch werden lässt. Dennoch können wir uns vor Fragen der Ethik und Moral nicht einfach drücken und uns mit diesem Wirklichkeitszustand abfinden. Wir wissen heute, was mit unseren Produkten und unserem produzierten Wissen gemacht wird. Wir wissen, was mit hier produzierten Waffenteilen anderswo veranstaltet wird, d.h. wie sie zusammengesetzt und wozu sie verwendet werden. An diesen Produktionsprozessen setzt bei mir die Frage einer "Ferne-Moral" ein. Nur durch ein zwanghaftes Nicht-Wissen können wir uns vor dieser Einsicht drücken. Das Wissen darüber ist gerade wegen dieses medialen

Kommunikationszusammenhangs größer als in Gesellschaftsordnungen traditioneller Struktur.

Die traditionelle Ethik war eine Nähe-Ethik. Sie entsprach den Organisationsformen traditionaler Gesellschaften und des Gemeinwesens. Diese Fragestellungen, die H. Jonas andeutet, sind weder ausgestanden noch hinreichend diskutiert. Ich greife sie auf, um sie in Richtung auf den angesprochenen Produktionssektor zu erweitern. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir sagen: Ethiken, die auf Gesetzgebung oder Codizes gegründet sind wie der Dekalog oder die kantische Ethik sind passé. Nur noch kommunikative Ethiken sind möglich. Aber auch die kommunikative Ethik enthebt uns nicht der Verantwortung, über die Folgen und Wirkungen der von uns produzierten Gegenstände auf andere alltagspraktische oder auch politische Zusammenhänge nachzudenken.

Diese Verantwortung trifft auch auf den Intellektuellen zu. Auch er kann sich nicht völlig davon freimachen, welche Reaktionen ein Buch oder ein Vorschlag von ihm bei Menschen hinterlässt, die sich an diesen Gedanken orientieren. Gemessen an den technischen Produkten sind die geisteswissenschaftlichen Resultate sicherlich noch die harmlosesten. Die beschleunigte Autoproduktion beispielsweise ist augenblicklich ein Verbrechen gegen die unmittelbar Betroffenen, gegen die Städte und die Umwelt. Die Phantasielosigkeit dieses Zusammenhangs ist inzwischen für mich der Gegenstand einer umformulierten Ethik.

Kann das wirklich heute noch die Aufgabe oder die Funktion des Intellektuellen sein? Können die Intellektuellen diese Verantwortung für die "Schicksalsgemeinschaft Menschheit" überhaupt übernehmen? Im Übrigen sind sie, allein was die Erfahrung der letzten Jahrzehnte angeht, auch diskreditiert. Wäre es da nicht ratsamer, für mehr Unverantwortlichkeit und Dissidenz einzutreten, als die Intellektuellen mit Verantwortlichkeit zuzubetonieren, die sowieso keiner übernehmen kann oder auch tragen will?

Oskar Negt: Gegen Patchwork und kleine Erzählungen ist nichts einzuwenden. Sie sind produktiv und sinnvoll. Ich mache das auch. Aber mir ist völlig unklar, warum es damit sein Bewenden haben muss. Für mich als kritischen Intellektuellen reicht das nicht aus. Ich erlaube mir im Gegensatz zu den postmodernen Vorschriften, Gedanken über das Allgemeine zu machen, und zwar vom konstitutiven Zusammenhang der Gesellschaft bis hin zur Weltgeschichte.

Deshalb auch Eigensinn und Geschichte.

Oskar Negt: Ja! Viele Elemente der Postmoderne sind mir vertraut. Die Dogmatisierung des vereinzelten Einzelnen ist m. E. die Umkehrung der Dogmatisierung des Allgemeinen. Sie ist im Grunde nichts anderes als die Umdrehungen der Struktur L. Althussers. Sie ist geschichtsloses Denken nach unten, in Richtung einer Provinzposse getrieben. Die Geschichte setzt sich nicht zusammen aus den Patchworks. Sie besteht eben auch aus Machtverhältnissen und Machtstrukturen, über die sich Gedanken zu machen nicht nur ein Dissident berücksichtigen muß, um nicht in den Knast zu kommen.

Ich kann auch nicht ständig gegen alles oder jede Ungerechtigkeit rebellieren. Ich bin kein Rebell in meinem Verhalten, sondern ein kritischer Intellektueller, der in Verhältnisse eingreift, die er glaubt erkannt zu haben. Die Verantwortung des Intellektuellen besteht auch im Begreifen der Dinge und Probleme. Wer soll es sonst machen? Wer ist frei gestellt? Es ist ein riesiger Verschleiß gesellschaftlicher Ressourcen, wenn die Intellektuellen anfangen, nicht mehr ihre Arbeitsmittel, die Begriffe, zu begreifen. Wer kann ein Buch lesen?

Wer ist verpflichtet ein Buch zu lesen? - Ein Hochschullehrer. Er wird dafür bezahlt, Bücher zu lesen, um sie anderen zu vermitteln. Deshalb soll er sie auch lesen! Mich würde es überhaupt nicht befriedigen, Patchwork zu machen, Kleingeschichten zu produzieren und nebenbei die Studenten darüber zu informieren, wo der Weltgeist sich verkrochen hat. Kleine Brötchen backen, die kleinen Schritte sind mir vertraut. Das ist auch für mich ein Stück radikaler Politik. Aber aus den Patchworks eine Linie des Denkens zu machen, ist ein Irrtum.

Das Interview wurde am 04.09.1992 geführt.

Verwendete Literatur von Oskar Negt:

  • Öffentlichkeit und Erfahrung, zus. mit Alexander Kluge, Frankfurt/M 1972
  • Diskussion mit O. Negt über "Öffentlichkeit und Erfahrung", in: Ästhetik & Kommunikation 12/1973, 4. Jg.
  • Industrialisierung der inneren Natur. Eine Diskussionsrunde, in: Ästhetik & Kommunikation akut 6/1981
  • Geschichte und Eigensinn, zus. mit Alexander Kluge, Frankfurt/M 1981
  • Die Geschichte der lebendigen Arbeitskraft. Diskussion mit O. Negt und A. Kluge, in: Ästhetik & Kommunikation 48/1982
  • Lebendige Arbeit, enteignete Zeit, Frankfurt/M 1984
  • Fünf Thesen zur Notwendigkeit der Geisteswissenschaften, in: Kursbuch 91/1988
  • Aufrechter Gang, in: Strohmeier, Jürgen C. (Hg.): Utopie und Hoffnung, Mössingen-Talheim 1989
  • Aus produktiver Phantasie, in: H. L. Krämer/C. Leggewie (Hg.): Wege ins Reich der Freiheit, Berlin 1989
  • Schädelstätte des Sozialismus: Anfang oder Ende der Utopie?, in: FR, 10. April 1990
  • Autonomie und Eingriff. Ein deutscher Intellektueller mit politischem Urteilsvermögen, in: Negt, O. et al.: Theorie und Praxis heute, Frankfurt 1990
  • Maßverhältnisse des Politischen, zus. mit Alexander Kluge, Frankfurt/M 1992
  • Wir können nicht mehr aus geborgter Realität leben. Interview mit O. Negt, in: links 4/1992

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