Van Gogh TV - Worlds Within

Das Atlanta Projekt der Interaktiv-Pioniere

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Van Gogh TV zeigt es allen. Während die Technologiebranche, was interaktive Multiuserwelten betrifft, derzeit voll auf VRML 2.0 setzt, hat sich die Medienkünstlergruppe erfrecht, ein eigenes Client/Server Konzept zu entwickeln und es während der olympischen Spiele im kulturellen Begleitprogramm als Pilotprojekt laufen zu lassen.

www.vgtv.com/

Van Gogh-Avatar

Und so gehts: Erst die Website aufsuchen und die neuerste Version des "Worlds Within" Viewers runterladen (das Zip-file hat ca. zwei 2MB). Dann den Viewer auf der eigenen Festplatte installieren. Das lief beim redaktionsinternen Testversuch alles völlig problemlos. Der Viewer läuft derzeit allerdings nur auf PcŽs, von 486ern aufwärts, also keine Macs, kein UNIX. Und dann das Programm starten. Der aktive Server ist in der Log-in Prozedur schon vorausgewählt, so daß auch das Einloggen problemlos vonstatten ging. Dann erscheint in einem großen Fenster links die "Welt", in einem kleineren Fenster rechts fliegen diverse Avatare vorbei, aus denen einer auszusuchen ist. Hier wird zum ersten Mal "der kleine Unterschied" zu einer kommerziellen Multiuserwelt offenkundig. Denn Van Gogh TV bietet keine öden Gallerien voller menschenähnlicher Avatare, sondern eine recht lustige Kollektion von Gegenständen und Tieren, mutet den Benutzern somit einen Abstraktionsschritt zu. Abstraktion ist auch das Stichwort für die Gestaltung der Welt selbst. Über einer Ebene mit farbigem Schachbrettmuster schweben Gittermodelle von Würfeln. Ein Würfel ist ein sogenannter "Claim". User haben die Möglichkeit, Claims für sich abzustecken, das heißt, einen Würfel in Besitz zu nehmen, sein Inneres zu gestalten und persönlich signiert für andere zu hinterlassen. Wer das Innere eines dieser Würfel aufsucht, entdeckt, daß die Seitenwände aus "Billboards" bestehen, die Text, Grafik und Bilder enthalten, in einer späteren Ausbaustufe auch Sound, Video und Macromedia-ähnliche Präsentationen. Dann wird es auch möglich sein, daß User nicht nur das Innere der Würfel gestalten sondern auch ganze Würfel übereinanderschichten und damit Metastrukturen bauen. Auch die Würfelform ist nicht für alle Zeit festgelegt, andere Formen werden ebenfalls zugelassen sein.

Zur Zeit jedoch ist die Beschränkung nicht einfach Ideenlosigkeit, sondern Konzept. Das Wesentliche ist die Funktionalität dieser Würfel, die als private Ausstellungsräume der User fungieren. Darüberhinaus erlauben sie auch Interaktion. Spätere Betrachter können die Seiten anklicken, ein Arbeitsfeld springt auf und gibt die Möglichkeit, eine eigene Seite hinzuzufügen. So können als Reaktion auf eine erste Seite immer neue Seiten entstehen. Die über eine Menüleiste aufrufbaren Gestaltungsmöglichkeiten des Arbeitsfeldes sind Text, Grafik und Bild. Das funktioniert annähernd wie in jedem einfachen Grafikprogramm. Darüberhinaus haben diese "Whiteboards" den Vorteil, daß sie auch für gemeinsame Sessions von Usern im Netz benutzt werden können. Die Bewohner von Worlds Within können einander zu Konferenzen einladen und über das Whiteboard quasi in einer Art erweiterten Live-Dialogs multimedial kommunizieren. Eine Datenbank im Hintergrund speichert die Ergebnisse dieser Dialoge. Der entsprechende Würfel kann von den Nutzern zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgesucht, der Dialog fortgesetzt werden.

Shared Whiteboard

Nun sind nicht wenige Leute schon etwas vorsichtig geworden, wenn emphatisch von der multimedialen Live-Kommunikation in vernetzten Multiuserwelten die Rede ist. Gerade die Multiuserwelten, die auf der Siggraph gezeigt wurden, ob von Sony oder Intel, waren eigentlich bandbreitenfressende Negativpropaganda für das Genre. Die Versprechungen waren riesig, was effektiv gelaufen ist jedoch steckte noch sehr sehr in den "Kinderschuhen" (um es freundlich auszudrücken). Das schöne an "Worlds Within" zum Unterschied von erwähnten Siggraph Neuheiten ist, daß es wenig verspricht, das aber einlöst. Die Abstraktion, so erklärte Julean Simon, der an der Konzeption mitgearbeitet hat, ist kein grafischer Selbstzweck, auch ist die Welt nicht völlig abstrakt. Sie nimmt gerade soweit Anleihen bei der realen Welt, wie nötig ist, damit gewisse Funktionen von Usern ohne große Extraerklärungen verstanden und genutzt werden können. So ist es einleuchtend, daß ein Würfel eine Art Inhaltscontainer ist. Seine Wände sind "Tafeln", die etwas zeigen, was unserer Gewohnheit entspricht, Bilder an Wände zu hängen oder Poster zu affichieren. Und das "Shared Whiteboard", das gemeinsame Arbeitsfeld, ist sicherlich die wichtigste Option in dieser Welt. In einer leicht zu erlernenden Art und Weise können sich User Bilder zeigen und dazu noch etwas sagen oder aufzeichnen. Video, Audio und 2D-Animation sind wie gesagt in Vorbereitung. Weitere Elemente von Realismus sind "Coalition Detection", d.h. man kann nicht einfach durch Wände gehen, sowie realistische Verhältnisse von Entfernungen und Geschwindigkeiten.

Von "Computer Supported Collaborative Work" wird ja sehr viel geredet. Van Gogh TV hat es in einfacher Weise verwirklicht.

Gesamtansicht

Das ganze System ist, so macht Karel Dudesek, Leiter der Gruppe, im Gespräch deutlich, eine schwierige Balance zwischen Dingen, die man gerne möglich machen würde und den Einschränkungen, die in Form von Modems, Bandbreite und Rechenleistung der Systeme der Nutzer gegeben sind. Das Ziel war, ein möglichst skalierbares System zu entwickeln, um Leute mit älterem oder billigerem Equipment nicht auszuschließen. Auch sie sollten ruckelfrei und schnell durch die Welt fliegen können. Deshalb beschränkte man sich auf so wenige Polygone wie möglich und vertraute auf den Würfel als Grundform.

Im realistischen Einsatz zu den olympischen Spielen in Atlanta hatte das System sicherlich noch einige Fehler. So speicherte es z.B. keine Bilder, die von den Nutzern auf die Billboards geladen wurden. Doch daß es überhaupt funktionierte und sich einige hundert User in "Worlds Within" tummelten, ist eigentlich ein kleines Wunder. Das Entwickler Team - Server Martin Schmitz, Client Ernst Pfannenschmidt, Grafik Tim Becker - hatte ein knappes Jahr Zeit. Dazu kamen jedoch viele Probleme, sodaß diese Zeit nicht immer effizient genutzt werden konnte. Der Veranstalter des Kunstprogramms zu den Olympischen Spielen stellte kein Budget zur Verfügung. Mangels Geld war es im Vorfeld in Deutschland sehr schwierig, das Projekt unter realen Bedingungen auf einem Server im Netz zu testen. Eunet bot zunächst Unterstützung an, zog sich dann aber zurück. Ähnlich mit anderen potentiellen Sponsoren. Da die Applikation vor der Firewall laufen muß, hatten die meisten Institutionen Angst vor unerlaubten Eindringlingen. Wissenschaftsinstituten wiederum graute es davor, Software laufen zu lassen, die kaum getestet war. Dabei kann die Software (C++ und Sybase) auf jedem SUN Sparc Server im Internet mitlaufen. Erst mit dem Wechsel in die USA und durch die Unterstützung von Harvie Brainscomb (Entwickler und Ex-Kurator Interactiva, L.A.) sowie Hotwired, die es ermöglichen, daß die Software (bis heute) auf ihrem Server mitläuft, konnten diese Hürden, die beinahe alles vereitelt hätten, überwunden werden.

Trotz dieser harten Startbedingungen ist Van Gogh TV zuversichtlich und feilt an Weiterentwicklungen des Konzepts. Das System soll intelligenter werden, sodaß es auf Nutzer reagiert und sich durch die Eingaben der Nutzer verändert. Repräsentationen einer vielschichtigeren Ästhetik sollen so ermöglicht werden, z.B. indem sich Avatare, je nachdem, wo sich Nutzer aufhalten, verändern.

Van Gogh TV arbeiten in einem Feld, das begrifflich schwer zu fassen ist. Die Zuordnung zu "Medienkunst", wie sie landläufig praktiziert wird, ist eigentlich nicht zutreffend. Mit "Worlds Within" wurde konzeptuelle und technologische Entwicklungsarbeit geleistet. Die Idee ist, den Usern ein Toolkit in die Hand zu geben, ein vielseitiges Werkzeug, das es ihnen ermöglicht, im Netz - einem Raum, den sie sich mit anderen teilen - kreativ zu werden.

"Welt von oben"

Mit diesem Selbstverständnis setzt sich Van Gogh TV vorerst zwischen alle Stühle. Für Museen oder Galerien ist diese Vision zu medienorientiert. Denn Van Gogh TV macht ja keine Inhalte, sondern eine Struktur, die als Platform für die Inhalte anderer dient. Leider hat es sich in Kunstkreisen noch nicht herumgesprochen, daß das eigentlich die schwierigste Kunst ist, die wir gesellschaftlich auch am dringendsten benötigen würden.

Für die Industrie wiederum ist ihr Ansatz zu außenseiterhaft. Hier drängt alles zu VRML 2.0, vor allem aber geht es immer darum, Tools zu schaffen, mit denen die Profis Inhalte herstellen, die dann von Konsumenten "angegafft" werden können. Der User wird primär als Konsument gesehen. Trotz allem Gerede um Interaktivität und Kommunikation hat die Industrie scheinbar kein ernsthaftes Interesse, den User zu ermächtigen, sodaß er aus seinem unmündigen Consumerstatus herauskommt und den mündigen Status eines Prosumers erreicht.

Genau das aber ist das Ziel von Van Gogh TV in Weiterverfolgung einer nun bereits zwanzigjährigen künstlerischen Praxis, die aus der Performance-Kunst kam und in den Medien ihren vorläufigen Entwicklungshöhepunkt fand.