Van Gogh TV - Worlds Within

Seite 2: Van Gogh TV - Die Hintergrundgeschichte

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Nach dem Ausscheiden von Mike Hentz und der Trennung vom Ponton European Media Art Lab ist Karel Dudesek der letzte noch aktive Künstler einer legendären Gruppierung, die seit Mitte der siebziger Jahre mit Performance Art und unter dem Namen Minus Delta T in erscheinung trat. Minus Delta T war darauf abonniert, das Unmögliche möglich zu machen. In den siebziger Jahren vollbrachten sie Dinge, wie z.B. mitten in der Ölkrise ein Faß Rohöl nach Bagdad zu transportieren oder in US-amerikanischen Armee-Uniformen per Autostop nach Polen zu reisen. Anfang der achtziger Jahre im Zuge des "Bangkok Projekts" war die Absicht, einen Felsblock, der aus den selben Steinbrüchen wie die Steine von Stonehenge stammte, auf dem Landweg bis nach Bangkok zu transportieren. Doch geht es nicht darum, diese Projekte einfach nur als Beispiele für eine Art verrückte Extremsporthaltung übertragen auf Kunst zu zitieren. Das Anliegen der Gruppe war, Ereignisse im öffentlichen Raum auszulösen, Ereignisse, die das Denken der Menschen beeinflussen sollten. Minus Delta t wollte die Menschen aus den geregelten Bahnen herausholen und ihnen zeigen, daß es auch andere Möglichkeiten gibt, die Welt zu sehen und in ihr zu agieren. Man könnte sagen, sie verfolgten einen prozeßhaften und partizipatorischen Kunstbegriff. Anders gesagt, es ging ihnen darum, die Leute durch Aktionen anzustiften, selbst zu Mitgestaltern der Ereignisse zu werden. Die große Stärke der bei Minus Delta T beteiligten Individuen war, in gegebenen Situationen den psychischen Knackpunkt des jeweiligen Publikums zu finden, jenen Riß in der sozialen Rüstung, der es ermöglicht, das Korsett schließlich zu sprengen und echte Spontanäitet freizusetzen.

An diesen grundsätzlichen Zielen, durch Aktionen im öffentlichen Raum das Publikum aus der Reserve zu locken und es zu Mitgestaltern von Ereignissen zu machen, hat sich bis heute nichts geändert. Aus dem öffentlichen Raum von einst wurde nun allerdings der virtuelle Raum der Netze. Und die Performance als Mittel zur Animation wurde von harter Konzept- und Programmierarbeit abgelöst. Karel Dudesek, Ex-Performancekünstler, ist nun eine Art Manager, der ein Entwicklerteam leitet. "Worlds Within, das Atlanta-Projekt", sagte Karel bei der Siggraph, "ist bisher mein erstes wirkliches Medienprojekt und wahrscheinlich mein schwierigstes Projekt bisher überhaupt".

Die Gewichtigkeit dieser Aussage erschließt sich erst, wenn man die Zwischenstufen zwischen der Performance-Frühphase und der Gegenwart kennt. Ab Mitte der achtziger Jahre begann Minus Delta t, sich umzuorientieren, die Medien wurden immer mehr als der zentrale Ansatzpunkt für eine Kunst, die einen gesellschaftsverändernden Anspruch hat, erkannt. In Zusammenarbeit mit dem Kölner Organisator Axel Wirts wurde ein Gelenks-Omnibus angeschafft und zu diversen Anläßen ab 1985 als mobiles Medienlabor eingesetzt: Radio in Frankfurt 1985 und bei der Dokumenta 1986 und 1988 beim Osnabruecker Medienkunstfestival erstmals auch Fernsehen. Damals tauchte auch das erste Mal der Name Van Gogh Tv auf, parallel dazu diente der Name "Ponton" als Label für übergreifende Aktivitäten. Immer mehr technisches Know How und organisatorische Kompetenzen kamen hinzu. Diese Entwicklung kulminierte bei der Documenta 1992, als Ponton/Van Gogh Tv 100 Tage lang interaktives Fernsehen unter dem Titel "Piazza Virtuale" realisierte. Dieses Projekt war ebenso erfolgreich wie umstritten. Zum einen war dies der erste größere öffentliche Feldversuch in interaktivem Fernsehen in Europa, vielleicht sogar weltweit. Die Gruppe zeigte, daß künstlerischer Pioniergeist Mangel an Resourcen ausgleichen konnte und daß die Künstler nicht nur an Ideen sondern auch an Realisationsvermögen bezüglich interaktivem Fernsehen der Industrie und den großen Networks um einige Schritte voraus waren. Zugleich war dieses interaktive Fernsehen eine sehr hybride Angelegenheit, eine Mischung aus Telefon, Fax, Mailbox, Live-Kameras an öffentlichen Orten, Steuerung von Computerspielen über Touch-Tone Telephon u.a. Spielereien. Das Ergebnis, eine Kakophonie von Usern und Rezipienten, wurde oft als "Hallo-Hallo-Interaktivität" abgekanzelt. Derartig leichtfertige Kritik maß den Event nur an einigen hervorstechenden Symptomen und übersah, daß hier erstmals ein System realisiert wurde, daß es wirklich einer größeren Zahl von Usern ermöglichte, zeitgleich in einem elektronischen Raum präsent zu sein. Und die User dankten es, indem die diversen Einwählpunkte Tag und Nacht von vielen Teilnamewilligen blockiert waren.

Der große Nachteil der "Piazza Virtuale" bestand sicherlich darin, daß soviele Komponenten miteinander verstrickt waren. Zugleich erforderte es ein ganzes Team, das permanent im Hintergrund werkelte, um das System am laufen zu halten. Als nächster Schritt wurde für die Ars Electronica das Projekt "Service Area a.i." erarbeitet, das schließlich 1994 präsentiert wurde. Es ging einen Schritt weiter, indem die verschiedensten Funktionalitäten in einem System, beruhend auf einem mächtigen Server, zusammengefaßt wurden. Doch vertraute man dem System noch nicht und mischte das Computerelement mit einem Live-Fernsehelement mit Moderatoren, wie z.B. Steve Blair oder Blixa Bargeld. Das lockte sicherlich Seher an, war aber im Grunde widersprüchlich.

Erst mit "Worlds Within" machte man sich völlig von der Fernsehvergangenheit frei und vertraute allein dem interaktiven, vernetzten Computer als Medium.