Verdeckte Ziele
Irak: neues Waffenstillstandsangebot von Muqtada as-Sadr
Der Pulverdampf in Nadschaf hat sich gelegt. Während die Schäden an den heiligen Stätten begutachtet und beklagt werden und die Analytiker sondieren, wer denn jetzt als Sieger (vgl. Sistanis Schachzug zur Konfliktlösung) aus der "entscheidenden Schlacht" hervorgegangen ist, bergen Meldungen über das Geschehen im Irak beharrlich den Hinweis, dass die Kämpfe weitergehen, "Fighting continued in Iraq". Ob sich durch die gestern verkündete Waffenstillstandserklärung von Muqtada as-Sadr daran etwas ändern wird, bleibt abzuwarten
Mindestens 17 Iraker wurden in der Nacht von Sonntag auf Montag bei "heftigen Kämpfen" zwischen US-Soldaten und al-Mahdi-Milizen im Bagdader Stadtteil Sadr-City getötet, mehr als 96 verletzt.
Die Verhandlungen über einen Waffenstillstand würden am entscheidenden Punkt stocken, hieß es gestern noch bis zum späten Nachmittag. Zwar habe die Interimsregierung der Sadr-Miliz einen Zehn-Punkte-Katalog, eine Art Road-Map für eine siebentägige (!) Feuerpause, vorgelegt, doch die Vertreter der Sadristen würden es weiterhin strikt ablehnen, ihre Waffen abzugeben – mit dem Hinweis darauf, dass die Waffen persönlicher Besitz seien.. Dann ließ Muqtada as-Sadr durch seinen bislang unbekannten Sprecher Scheich Ali Smeisim den "Durchbruch" verlautbaren: einen landesweiten Waffenstillstand. Weil as-Sadr "Frieden wolle und sich am politischen Prozess im Lande beteiligen". Darüber, dass seine Truppen die Waffen abgeben sollten, wurde nichts Konkretes verlautet. Für eine solche Verlautbarung sei die rechte Zeit noch nicht gekommen, sagte sein Sprecher.
"Good news" zunächst für Allawis Regierung, die dem massimo lider während aller Kämpfe stets noch die Möglichkeit offen gelassen hatte, sich politisch zu beteiligen. Wie diese politische Beteiligung von Muqtada künftig genauer aussehen könnte, soll erst in den nächsten Tagen bekannt gegeben werden. Der Streitpunkt liegt schon fest: die al-Mahdi-Miliz. As-Sadr soll sie auflösen, fordert Allawi, aber die Miliz gehört zum Kern der Sadr-Anhängerschaft; es ist sehr fraglich, wie viel "Auflösung" sich as-Sadr leisten kann. Auch sind einige von seinen Kämpfern sind nichtsdestotrotz zur Weiterführung ihres kämpferischen Widerstands entschlossen:
Glauben Sie, dass einer, der von Anfang an an den Kämpfen teilgenommen hat, jetzt aufhört? Es ist entweder Sieg oder Märtyrertod.
Falah Abdul Hassan
Man darf gespannt sein, wie Muqtada gegenüber der Haltung der Falken innerhalb seiner Anhängerschaft verfahren wird. Von Allawi ist dem populären Schiitenführer gegenüber der übliche taktische Zickzackkurs zu erwarten, der darauf angelegt ist, Muqtada auf ein politisches Parkett zu führen, wo er sich gegen die schiitische Konkurrenz, die Ad-Dawa-Partei und SCIRI, behaupten muss.
Allawi, der Neobaathist
Machtbewusstes Auftreten und Entschlossenheit übte Allawi und seine Polizei vor allem gegen Journalisten, die in seiner Regierungsweise mehr und mehr das Saddam-Plagiat entdecken:
Die neuen Polizeikräfte sind sehr wie die alten. Die gleichen baathistischen Instinkte das Bedrohen und Einschüchtern von Leuten, die einen in peinliche Situationen bringen könnten scheinen kräftig wieder aufzuleben.
Luke Harding, Guardian
Dazu passt, dass Allawi unterdessen Verfügungen aufhebt, welche die Mitarbeit von ehemaligen Baathpartei-Mitgliedern in Ministerien untersagen; die "tabula rasa"- Debaathisierung der Amerikaner kurz nach dem Einmarsch im Irak im letzten Jahr wird anscheinend unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit peu à peu zurück genommen.
Möglicherweise hat die Krise um die Besetzung des heiligen Schreins in Nadschaf die Machtverhältnisse dort schon verändert; allerdings nicht zu Gunsten der Gegner Muqtadas. Wie gestern berichtet wurde, soll die Stimmung unter Schiiten, die bislang als moderat galten, nach dem Standoff in Nadschaf zugunsten des al-Mahdi-Führers kippen.
Großayatollahs in der Kritik
Interviews der letzten Tage, so der Christian Science Monitor, würden deutlich machen, dass as-Sadr aus den Kämpfen in Nadschaf mit einer "sich weiter verbreiternden Basis und einer Anhängerschaft militanter als zuvor" hervorgegangen sei. Innerhalb der Schiiten könne man eine starke "Ernüchterung" gegenüber den Amerikanern spüren; vieles deute auf eine wachsende Verschlechterung der Bagdader Regierung hin, was deren Fähigkeit betrifft, Iraks größte Religionsgemeinschaft überhaupt zu erreichen.
Auch Sistanis Ansehen und das der anderen Großayatollahs der Hausa, dem Gremium der höchsten Autoritäten im irakischen Schiitentum, hat zumindest aus der Perspektive der jüngeren Schiiten durch die Krise in Nadschaf gelitten: Die jungen und "energischen" Männer, die sich as-Sadr angeschlossen haben, hätten aus dieser Sicht den großen Ayatollahs die Botschaft übermittelt, dass es womöglich an der Zeit wäre, statt sich Diskurse über Reinheit und Arten des Wassers zu liefern, damit zu beginnen, seine Aufmerksamkeit den Themen zuzuwenden, die in "einer Welt wichtig sind, die sich in Lichtgeschwindigkeit bewegt".
Was wir brauchen sind Ayatollahs, die im Satellitenfernsehen über weltliche Themen sprechen, die Computer benutzen und Mobiltelefone, die aber auch die Berührung mit den Verkäufern und Kunden auf den Märkten nicht scheuen. Wenn Imam Ali (der "Gründervater" der Schiiten, Anm.d.A.) noch am Leben wäre, würde er dies tun und mehr als das.
Abbas Kadhim, al-Ahram
Das "Phänomen Muqtada as-Sadr" habe die Schwäche der alten quietistisch gesinnten Großkleriker offengelegt: es zeige, dass die alten Bindungen zwischen den Führern und ihrer Anhängerschaft nicht mehr so gut funktionieren. Die Frage "Was ist falsch und irrig an den Schiiten, die sich um Muqtada scharen?" müsse demnach anders gestellt werden: "Was ist falsch und irrig an den Großayatollahs, die ihre Anhängerschaft an Muqtada verlieren?"
Gleichviel, ob Muqtada durch den Showdown in Nadschaf tatsächlich an Popularität und Anhängerschaft gewonnen hat - wahrscheinlich lassen sich, was Interviews mit Schiiten betrifft und persönliche Ansichten darüber, wie sehr sich die Macht eines Schiitenführers mehr durch Zahl der Anhänger oder religiöse Stellung (Muqtada nimmt da keinen großen Rang ein) bestimmt, auch viele andere Ansichten finden - ein Resultat aus den Kämpfen der letzten Woche lässt sich nicht so leicht weg diskutieren: Muqtadas Forderung an die USA, ihre Truppen abzuziehen, steht mächtiger im Zentrum der politischen Diskussionen im Irak denn je.
Die USA sollten sich keine Illusionen machen, so der amerikanische Irak-Experte Juan Cole, die Kernfrage in der schiitischen Führung laute: "Wann soll der Big push geführt werden, um die Amerikaner aus dem Land zu kriegen?". Das "moderate" Verhältnis der geistlichen Führung, wie etwa von Sistani, gegenüber den Amerikanern sei taktisch bestimmt. Man setze aufgrund der Mehrheitsverhältnisse auf eine starke schiitische Präsenz in der gewählten Regierung nach den Wahlen, die für den Januar nächsten Jahres angesetzt sind; erst nach den Wahlen wolle man die Amerikaner loswerden.
Keine militärische Antwort mehr auf die Aufstände im sunnitischen Kernland
Doch selbst wenn man die amerikanischen Truppen als Garant für die Wahlen ins Kalkül zieht, es steht noch lange nicht fest, ob die Wahlen zum angesetzten Termin stattfinden, bzw. ob sie überhaupt stattfinden. Landesweit zeigen sich nämlich Entwicklungen, die fatale Parallelen zu den Verhältnissen in Afghanistan ziehen: ähnlich wie über Karzai, dessen Macht sich kaum über Kabul hinaus erstreckt, könnte man auch von Allawi sagen, dass er nicht mehr Macht hat als die eines Bürgermeisters über die Hauptstadt. Und daran kann auch die militärische Unterstützung der Amerikaner nicht viel ändern, wie sich in den Städten Falludscha und Ramadi und in der Anbar Provinz exemplarisch herausstellt.
Auch die Bombenangriffe, wie zuletzt am Freitag auf Falludscha, scheinen die Fundamentalisten zu stärken, schreibt der New York Times-Korrespondent John F. Burns und zieht darüber hinaus ein düsteres Zwischenfazit aus der letzten politischen Taktik der US-Führung in Zusammenarbeit mit der Allawi-Regierung, um den Aufständen im sunnitischen Kernland Herr zu werden:
Amerikanische Bemühungen eine Regierungsstruktur um frühere Baath-Partei-Getreuen - führende Mitglieder der Armee Saddam Husseins, seiner Polizei und der Bürokratie, die willens waren mit den Vereinigten Staaten zusammen zu arbeiten - herum zu bauen, sind gescheitert.
In den letzten Wochen seien drei ehemalige Saddam Hussein-Getreue, die man auf wichtige Posten in Falludscha und Ramadi gesetzt hatte, von den "Militanten" und deren baathistischen Verbündeten "eliminiert" worden: der Chef der Irakischen Nationalgarde in Falludscha wurde enthauptet, der Gouverneur der Anbar-Provinz legte seinen Posten nieder, nachdem man seine Kinder entführt hatte - ein Video, das zeigt, wie der Mann weinend um das Leben seiner Kinder fleht, wird in Märkten feilgeboten. Der dritte Mann, ein Polizeichef in Ramadi, wurde von den Amerikanern festgenommen, nachdem ihn die andere Seite mit Attentatsversuchen dazu gezwungen habe, überzutreten.
In Falludscha habe Abdullah al-Dschanabi, ein Kleriker, eine Taliban ähnliche Herrschaft errichtet. Das Hauptquarteir der Falludscha-Brigade, die einstmals im Dienste der irakischen Regierung und der Amerikaner anstelle der Marines für Ruhe und Ordnung in der Stadt sorgen sollte, steht jetzt leer. Amerikanische Militäraktionen "beschränken" sich auf Luftangriffe, deren Ziele von obskuren Spionen, scouts, mittels eines Streichholzschachtel großen elektronischen "Chips" markiert werden.
Die amerikanische Hilflosigkeit, mit militärischen Mitteln die Aufstände zu kontrollieren bzw. niederzuwerfen, kulminiert seit Wochen in dem immer wieder kolportierten Eingeständnis, dass man nichts anderes mehr wüsste, als Städte wie Falludscha und Ramadi einfach "platt zumachen". Dieser Satz taucht auch in dem Bericht der New York Times neuerlich auf, mit dem Zusatz, dass man sich doch für die bessere Möglichkeit entschlossen habe, die militanten Islamisten von altverdienten Baathisten in Regierungspositionen in den Griff zu bekommen. Wie es scheint, scheitert auch dieses Konzept.
Eingeständnissen militärischer Führer zufolge hat man nach wie vor keine Lösung in petto, um mit dem Problem der Aufständischen im sunnitischen Kernland fertigzuwerden. Angesichts der schlechten Sicherheitslage könnte es so dazu kommen, "dass eine vollständige, landesweite Wahl im Januar nicht möglich sein wird". Bisher habe man 15 Städte im arabischen Teil Iraks, deren Verhältnisse stabil genug wären, um Wahlen im Januar zuzulassen. Die Aussichten allerdings, dass man Falludscha und Ramadi, bis dahin dazu zählen können wird, sind schlecht.