Verena Becker: Zielfahnder beschatteten sie in Singen
BND soll mit im Spiel gewesen sein
Der Schusswechsel zwischen den RAF-Terroristen Verena Becker und Günter Sonnenberg mit der Singener Polizei vom 3. Mai 1977 schlägt auch über 30 Jahre danach noch hohe Wellen. Nach Informationen des Autors aus Geheimdienstkreisen wich das tatsächliche Geschehen damals von der offiziell verbreiteten Version erheblich ab. Demnach war der deutsche Auslandsgeheimdienst BND (Bundesnachrichtendienst) in den Ablauf verwickelt. Becker und Sonnenberg standen die ganze Zeit über unter Beobachtung.
Oft kann das Gewissen einen Menschen offenbar stärker belasten als die wenig rosige Aussicht auf eine Bestrafung nach § 353 b des Strafgesetzbuches. Dort nämlich ist eindeutig geregelt, was jene zu erwarten haben, die Dienstgeheimnisse ausplaudern: Hohe Geldstrafen oder sogar Haft. Das gilt auch für Beamte. Sie können sogar noch nach ihrer Pensionierung belangt werden - indem sie Pensionsansprüche verlieren. Umso erstaunlicher erscheint die Tatsache, dass (wenige) ehemalige Angehörige hoher Sicherheitskreise dennoch - vorsichtig dosiert - Einzelheiten aus der Zeit des Terrors in Deutschland an die Öffentlichkeit lassen. So auch im Fall der folgenschweren Begegnung zwischen Verena Becker, Günter Sonnenberg und der Polizei in Singen am Bodensee.
Was wirklich dort geschehen sein soll: Schon zu Beginn ihrer Reise von Essen nach Singen wurden Becker und Sonnenberg im Zug D-209 beschattet. In einem internen Vermerk für die Führung des Bundeskriminalamtes wurde festgehalten, dass das Terror-Paar zusammen mit drei weiteren Personen in den Zug gestiegen sei. Dabei handelte es sich der schriftlichen Unterlage zufolge um zwei Frauen und einen Mann. Während die Frauen mit ihrem Gepäck den Zug bereits in Bonn verlassen hätten, sei der Mann bis Karlsruhe mitgereist.
Auch der Ablauf in Singen selbst am darauffolgenden Morgen gestaltete sich anders als offiziell veröffentlicht. So soll nicht irgendeine Besucherin des Cafes "Hanser" in der Innenstadt die Terroristen dort entdeckt haben, sondern eine Angehörige eines Zielfahndungskommandos des BND. Die auf Beobachtungen geschulte Frau und ein Kollege seien damals Becker und Sonnenberg seit geraumer Zeit auf den Fersen gewesen und sollen sich am Morgen des 3. Mai 1977 bei der Polizei unter Vorlage ihrer Dienstausweise gemeldet haben.
Der Plan soll darin bestanden haben, Becker und Sonnenberg durch die Polizei aus dem Cafe "Hanser" holen zu lassen (Geheimdienste dürfen keine Festnahmen durchführen), um anschließend einen in seiner theoretischen Planung nicht mehr nachvollziehbaren Zugriff zu starten. "Doch die Singener Polizei", so ein Beamter, "hat die Sache vermasselt."
In der Folge kam es dann praktisch unter den Augen der Geheimdienstler zu dem bekannten tragischen Verlauf. Kurz zuvor hatte Verena Becker nach Aussagen der damaligen Bedienung des Cafes "Hanser" die Toilette betreten, die hinterher verstopft war. Möglich, dass Becker einen verdächtigen Gegenstand oder ein Schriftstück verschwinden lassen wollte.
Aus Unterlagen im Hauptstaatsarchiv Stuttgart geht hervor, dass acht Tage später eine Singener Zeitung eine mysteriöse Karte, auf der eine Patronenhülse vom Kaliber 7,65 sowie ein Schließfachschlüssel geklebt waren, erreichte. Dazu hatte der Absender einen aus Zeitungsbuchstaben zusammengesetzten Text formuliert. Der Inhalt: "Kampf um Deutschland, gnadenloser Kampf. Rache für Stockholm. Gefährlich: Bombe im Hbf, unheimlich: Bald ein Anschlag mit Atommüll, Atomasche, auf den Bodensee."
Sofort holten Spezialisten der Polizei die ominöse Karte samt Zubehör ab und begaben sich zum Bahnhof von Singen. Und tatsächlich: Der Schlüssel passte auf das Schließfach mit der Nummer 287. Darin stießen die Beamten auf einen ungewöhnlichen Sprengsatz, der mit einer bewegungsempfindlichen Zündvorrichtung versehen war. Experten entschärften die Bombe schließlich. Bei der Fahndung nach den bis heute unbekannten Tätern fanden Polizeieinheiten neun Tage danach am Rand der Straße von Radolfzell nach Singen 140 Stangen Sprengstoff Schweizer Herkunft, der der RAF zugeordnet wurde. Auch in diesem Fall sind die Urheber bis dato unbekannt.