Vergesst die G7!

Wäre die komplette Abwesenheit von Protesten nicht eigentlich die ultimative Delegitimierung dieser anachronistischen Inszenierung?

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Am 7. und 8. Juni findet wieder ein G7-Gipfel in Deutschland statt. Trotz des abgelegenen Tagungsorts mobilisieren Kritiker erwartungsgemäß zu Demonstrationen und Blockaden. Auch die Staatsmacht wird mit einem massiven Polizeiaufgebot präsent sein, und so können wir uns wohl wieder auf eine Flut an Bildern von Protest- oder Polizeigewalt einstellen, sowie auf lange Debatten über den Sinn und Zweck von Gipfeln und Gegengipfeln. Das ist eigentlich absurd, denn in den Augen der Öffentlichkeit erhält die "Gruppe der 7" damit eine Bedeutung, die sie politisch schon lange nicht mehr hat. Die wichtigen Treffen finden längst anderswo statt.

"Triumph der G8-Gegner" - damals war Russland noch dabei - titelten selbst bürgerliche Tageszeitungen während der erfolgreichen Massenblockaden des Gipfels im Ostseebad Heiligendamm im Juni 2007. Eine über Jahre gewachsene transnationale Protestbewegung traf auf eine Organisationsstruktur, deren Gewissenhaftigkeit und Effizienz geradezu preußisch anmuteten. Im Ergebnis mussten 15.000 gut ausgerüstete Polizisten machtlos zusehen, wie zehntausende Gipfelgegner den Tagungsort gewaltfrei blockierten. Zeitweise war das Kempinski Hotel nur per Hubschrauber zu erreichen.

Acht Jahre später ist die Bundesrepublik wieder Gastgeberin des Treffens. Mit Schloss Elmau in einem bayrischen Alpental entschied sie sich für einen Ort, der nur über eine einzige Zufahrtsstraße verfügt und somit relativ leicht großräumig abzusperren ist. Im "Stop G7/ Elmau"-Aufruf wird angekündigt, man werde sich mit "vielfältigen und kreativen, offenen und entschlossenen Aktionen, mit Demonstrationen, Blockaden und Versammlungen direkt am Schloss sowie der Großdemonstration in Garmisch-Partenkirchen und dem Gegengipfel in München der Politik der G7 in den Weg stellen". Ob nun von der Polizei oder von den Demonstranten: Die Straße wird sicherlich blockiert sein. Doch im unvermeidlichen Vergleich mit dem letzten "deutschen" G8 werden die diesjährigen Proteste kaum mithalten können.

Elmau ist eben nicht Heiligendamm 2007 und schon gar nicht Genua 2001. Die Bedeutung, die derartigen Gipfelprotesten beigemessen wird, ist in der linken Bewegung längst nicht mehr dieselbe - wenn denn heute überhaupt noch von EINER Bewegung gesprochen werden kann. Die Blockaden von Heiligendamm bildeten gewissermaßen einen Höhe- und Endpunkt, auch wenn es natürlich in den folgenden Jahren weiterhin zu Demonstrationen und anderen Formen des Protests gegen die G8 kam.

Die G7-Staaten sind längst nicht mehr der alleinige Mittelpunkt der Welt

Auch die Aufmerksamkeit, die den Treffen von der globalen Öffentlichkeit entgegengebracht wird, hat seit 2007 stark nachgelassen. Das mag teilweise mit der Delegitimierung durch die erfolgreiche Umzingelung zusammenhängen, realistisch betrachtet aber vor allem mit einem anderen Faktor: der fast zeitgleich einsetzenden globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Es zeigte sich bald, dass die G8-Staaten kein Konzept zu deren Überwindung hatten und ohne die Ressourcen der großen Schwellenländer quasi handlungsunfähig waren. Quasi über Nacht wurden daraufhin die bis dato eher unbedeutenden G20-Gipfel durch die Teilnahme der Staats- und Regierungschefs politisch aufgewertet.

Das erste Treffen in diesem Format fand in Washington im November 2008 statt, womit faktisch die "Gruppe der 8" als Zentrum globaler Governance abgelöst wurde - wie auch als Zielschreibe transnationaler Proteste, wie sich insbesondere beim G20-Gipfel in London am 2. April 2009 zeigte. In diesem Rahmen wurde seitdem eine oberflächlich erfolgreiche Politik zur Stabilisierung der Weltwirtschaft koordiniert, die sich bei genauerem Hinsehen als ebenso unfähig zu echten strukturellen Reformen erweist und sich weitgehend auf ein "Zukleistern" aller Probleme mit riesigen Geldsummen beschränkt. Die bestehenden Widersprüche und Ungleichgewichte werden so nicht gelöst, sondern temporär verdeckt und in die Zukunft verlängert, bis zur nächsten großen Eruption.

Als wäre diese offensichtliche Unfähigkeit der G8, angesichts der Krise entschlossene Führung zu demonstrieren, noch nicht genug, machten sich deren westliche Mitglieder dann 2014 endgültig weltpolitisch lächerlich, als sie aufgrund der Differenzen um die Ukraine-Krise Russland aus ihrem "Club" ausschlossen. Der G7-Behelfsgipfel im Juni in Brüssel - vorgesehen war eigentlich ein Treffen im russischen Sotschi - verkam damit zu einem Sektierertreffen, dem es weniger um globale Herausforderungen ging als vielmehr um Selbstbestätigung und das Beschwören der gemeinsamen antirussischen Front. Russlands Präsident Putin gilt in G7-Kreisen weiterhin als persona non grata, so dass es auf Schloss Elmau wohl wieder beim gegenseitigen Auf-die-Schulter-Klopfen unter Freunden bleiben wird. Auch wenn durchaus wichtige Themen wie die Ukraine- und die Mittelost-Krise sowie der Klimawandel oder der Kampf gegen Epidemien besprochen werden sollen: Der Rest der Welt, insbesondere die aufstrebenden Schwellenländer, wird dafür kaum mehr als ein müdes Lächeln übrig haben.

Dafür gibt es einen einfachen Grund: Die durch die G7 repräsentierten alten Industrieländer sind längst nicht mehr der alleinige Mittelpunkt der Welt. Ihr Anteil an globaler Wertschöpfung und Handel ist deutlich gesunken, und auch die zuvor unangefochtene Dominanz des Dollars als weltweite Transaktions- und Reservewährung bekommt deutliche Risse. Dahingegen wurde die Süd-Süd-Zusammenarbeit gerade zwischen den größeren Schwellenländern seit dem ersten informellen BRIC-Außenministertreffen 2006 systematisch ausgebaut. Spätestens seit dem letzten Jahr stehen die "BRICS" (Brasilien, Russland, Indien, China, seit 2010 auch Südafrika) den G7-Staaten als quasi ebenbürtiger neuer Block gegenüber, auch wenn letztere das noch nicht wahrhaben wollen.

Doch die Fakten sprechen für sich: In kurzer Folge wurden zentrale neue internationale Organisationen geschaffen, namentlich die Eurasische Wirtschaftsunion, die Asiatische Infrastruktur-Entwicklungsbank AIIB und die BRICS-Bank NDB, während in der zweiten Jahreshälfte 2014 die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den BRICS-Staaten dafür sorgte, dass die von USA und EU gegen Russland verhängten Sanktionen dieses deutlich weniger hart trafen als Europa selbst. Der APEC-Gipfel in Beijing im November schließlich brachte nicht nur einen zweiten umfangreichen Gasliefervertrag zwischen Russland und China, sondern auch breite Unterstützung für das von China vorangetriebene Freihandelsprojekt FTAAP. Obama, dessen transpazifisches Abkommen TPP kaum von der Stelle kommt, fand sich in Beijing in einer Statistenrolle wieder.

Und 2015? Die bisher wichtigsten diplomatischen Ereignisse schreiben den Trend des Vorjahres fort und zeichnen sich dadurch aus, dass dabei nicht westliche Staaten im Mittelpunkt stehen, am wenigsten die USA: Beim zweiten Minsker Abkommen wie auch bei der Gründung der AIIB fanden sich diese in der Rolle des Außenseiters wieder, und auch die breite internationale Beteiligung an der Moskauer Militärparade am 9. Mai war sicher nicht in Washingtons Sinne. Nur Tage nach diesem unübersehbaren Signal flog US-Außenminister Kerry nach Russland, um bei Treffen mit Lawrow und Putin die Scherben aufzukehren.

Der diplomatische Höhepunkt des Jahres dürfte hingegen der Doppelgipfel von BRICS und SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) am 9. und 10. Juli im russischen Ufa werden - sicher nicht zufällig in einer Stadt auf oder nahe der im Aufbau befindlichen "Neuen Seidenstraße". Dort soll es nicht nur um verstärkte Wirtschaftskooperation gehen, sondern auch um die Aufnahme von Indien, Pakistan und dem Iran in die SCO, die damit endgültig zum neuen "global player" würde. Spätestens dann wird sich niemand mehr an den deutschen G7-Gipfel und seine folgenlosen Erklärungen erinnern.

Die Proteste reproduzieren nur ein Bild vergangener Größe

Angesichts dieser Entwicklungen der letzten zehn Jahre mutet es etwas anachronistisch an, wenn jetzt immer noch mit den Slogans von 2001 oder 2007 gegen die G7 als "selbsternannte Weltregierung" demonstriert wird. Damit tragen die Protestierer bewusst oder unbewusst dazu bei, in der Öffentlichkeit ein Bild längst vergangener Größe zu reproduzieren - und die anwesenden Staats- und Regierungschefs dürfen sich sogar noch geschmeichelt fühlen, wenn sie im Aufruf als "Repräsentant*innen der reichsten und mächtigsten Staaten der Welt" bezeichnet werden, die sie schon lange nicht mehr sind. Die Vermittlung konkreter Gegenpositionen hingegen hat schon in der Vergangenheit bei Gipfeln nur selten funktioniert, und gerade angesichts des unklaren inhaltlichen Fokus' dürfte das dieses Jahr kaum anders sein.

Was ist also das strategische Ziel der Proteste? Können sie unter diesen Umständen tatsächlich wirksam den G7 die Legitimation absprechen? Sind Camps und Blockaden nicht ohnehin längst obligatorischer Teil der politischen und medialen Choreographie eines solchen Ereignisses und so vorhersehbar wie das Amen in der Kirche? Und wäre es nicht angesichts dieser Überlegungen politisch wesentlich wirksamer, ja geradezu die ultimative Delegitimierung, wenn tatsächlich einmal niemand dort protestieren würde? Acht Jahre nach den Blockaden von Heiligendamm würde so ein neues Bild an die Welt übermittelt: "Die Institution der G7 versinkt in der Bedeutungslosigkeit - es findet sich noch nicht einmal mehr jemand, die oder der gegen sie demonstrieren will."