Vergleich mit Estland: Wie könnte eine radikale Schulreform in Deutschland aussehen?
Deutsche Schülerleistungen auf Tiefpunkt. Kann Estland Vorbild sein? Wie Schritte aus der Bildungskrise aussehen könnten. Und was dem im Weg steht.
Die zu Anfang dieses Monats veröffentlichte Pisa-Studie, mit der internationalen Lernleistungen von Schülern verglichen wird, hat gezeigt: Deutsche Schülerinnen und Schüler schneiden so schlecht ab wie noch nie. Nach den Erkenntnissen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist es zu einem deutlichen Abstieg in den drei untersuchten Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz gekommen.
Die OECD führt die schwachen Leistungen teilweise auf die Schulschließungen während der Coronapandemie zurück. Jedoch weist sie darauf hin, dass bereits vor der Krise in Deutschland und vielen anderen Ländern ein Trend zu schlechteren Schulleistungen zu verzeichnen war.
Im Jahr 2001 hatte die erste Pisa-Studie mit deutscher Beteiligung aufgrund der schlechten Ergebnisse einen Bildungsschock ausgelöst, der zu verstärkten Bemühungen in der Bildungspolitik führte und in der Folge zu verbesserten Pisa-Ergebnissen.
Unser Autor befasst sich mit den Auswegen aus der Bildungsmisere aus der Sicht eines Unterrichtenden.
Grundsätzlich muss man einräumen, dass im Pisa-Vergleich von Bildungsstandards Unterschiede von Kultur und politischen Systemen nicht berücksichtigt sind.
Deutschland wird also verglichen mit dem Primus Singapur, dessen Regierungsform dem Autoritarismus näher steht als einer Demokratie im westlichen Sinne.
In Estlands Schulen (Klassenbester in EU) ist der Unterricht durch Lehrkräfte geprägt, die nach immer noch sowjetischen Ausbildungsmustern ausgerichtet sind auf Wissensvermittlung (Frontalunterricht, striktes Einüben und vorrangig kognitives Lernen).
Wollen wir das wirklich auch bei uns?
Wenn man sich jedoch tendenziell daran orientieren wollte, wie dort unterrichtet wird, kann man schon auf den ersten Blick erkennen, dass viel mehr auf Disziplin und klare Strukturen Wert gelegt wird.
Das hieße im Umkehrschluss für Schulen in Deutschland:
• Fokussierung auf Kernfächer: Deutsch und Mathematik zuerst, des Weiteren Naturwissenschaften und Fremdsprachen (Siehe dazu: "Wir sind alle Legastheniker")
• Keine Gesellschaftslehre, sondern separate Fächer wie Politik/Wirtschaft (inklusive Berufsorientierung), Geschichte und Geografie.
• Strikte Begrenzung der Klassengröße auf max. 20.
• Akzeptanz des Prinzips, dass Schule in erster Linie einen Bildungsauftrag hat und es nur nachrangig um Aufbewahrung bzw. Beaufsichtigung der im Doppelverdieneralltag störenden Kinder gehen kann.
• Informatik als Fach zur von Lehrkräften begleiteten Einübung maßgeblicher Programme und Apps sowie zur Anleitung bei der Recherche über gängige Suchmaschinen. Keine freie Ausgabe von Tablets an Schüler:innen, das dient nur als Konjunkturprogramm für Apple, Samsung und Co. und boostet im Unterricht das Daddeln ins Bodenlose (siehe dazu: "Sind Tablets an deutschen Schulen der richtige Weg?").
• Allgemeinbildender Religionsunterricht ohne Konfessionsbindung, inklusive Ethik bzw. Werte und Normen. Kein Extrafach Philosophie, kein Islamunterricht.
• Extrakurse "Deutsch als Zweitsprache", falls die deutsche Sprache nicht so beherrscht wird, dass das Kind dem Fachunterricht folgen kann, und zwar so lange, bis die Sprachkenntnisse dafür ausreichen.
• Beibehaltung der Förderschulen, dazu inklusive Wege für Kinder mit Behinderungen, die reelle Chancen haben, an einer Regelschule zu lernen.
• Barrierefreiheit an Regelschulen für rein körperbehinderte Kinder, alles andere ist Ideologie.
• Ein pädagogischer Auftrag, der auch Sanktionen beinhaltet, die in klar definierten Fällen konsequent verfügt werden ("Kuschelpädagogik" herunterfahren).
• Striktes Handyverbot an der Schule, Einrichtung von Freizonen für dringend notwendige Anrufe (siehe dazu: "Verbietet endlich Handys in der Schule! ")
Das ist ein Programm, dessen Durchsetzung in Deutschland einer Utopie gleichkäme. Zu erwarten ist, dass man es als "Old School" bzw. "überholt", oder ideologisch gewendet "reaktionär" diffamieren wird, und man den Autor als ewig Gestrigen abtut oder, wie gerade in Mode, AfD-Nähe unterstellt.
Damit wäre der Political Correctness Genüge getan – bis zur nächsten Pisa-Überprüfung, bei der dann, wen sollte es wundern, unser Nachwuchs wieder als ein wenig ungebildeter eingestuft wird als in der Studie zuvor …
Dr. Ralph Gehrke, bis Juli 2012 Lehrer an einer Gesamtschule in Niedersachsen, zurzeit Lehrkraft für Bildungsabschlüsse (Hauptschule, Realschule) und Deutsch als Zweitsprache (in Integrationskursen des BAMF).
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