Bildungskrise in Deutschland: Warum die Verantwortung in Berlin liegt
Die Krise im Schulsystem ist maßgeblich durch Entscheidungen des Bundes provoziert worden. Deswegen liegt dort auch die Verantwortung. Ein Telepolis-Leitartikel.
Die Berichterstattung von Telepolis über die verheerenden Ergebnisse der Pisa-Studie der OECD zu Schulleistungen hat für einige Debatten gesorgt. "Lehrermangel, Lernrückstände und Corona-Folgen: Vollversagen der Ampel in der Bildungspolitik", titelten wir in einem Bericht, der aufzeigte, wie lange die Misere in Kitas und Schulen bekannt ist. Der Kommentar "Bildungskrise in Deutschland: Das Land steigt ab, die Regierung schaut zu" thematisierte die Verantwortung der Bundesregierung.
Das kritisierten mehrere Leser im Telepolis-Forum. "Die Ampel hat an anderer Stelle genügend Murks gebaut, hierfür ist sie aber mal nicht verantwortlich, weil Bildung Ländersache ist", schrieb ein Leser. "Die Pisa-Erhebungen fanden im April 2022 statt. Die Ampel regiert seit dem 8. Dezember 2021", schrieb ein anderer. Das ist beides richtig und steht auch so in den genannten Beiträgen von Telepolis. Dennoch ist das Ergebnis ein Armutszeugnis für die Bundesregierung.
Denn erstens ist der massive und flächendeckende Einbruch des Leistungsniveaus von Schülern in mehreren Fachbereichen eine nationale Angelegenheit. Dass die Kultushoheit bei den Ländern liegt, ändert daran nichts.
In der Pisa-Studie heißt es ja auch nicht, Brandenburg, Berlin oder Bremen – die drei leistungsschwächsten Länder – hätten versagt. Die OECD-Studie lässt Deutschland insgesamt schlecht dastehen. Zudem drohen die massiven Probleme von Schülerinnen und Schülern in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften zu einem Problem für deren Biografien zu werden – und für die deutsche Wirtschaft.
Die Bundesregierung ist auch verantwortlich für das von der OECD attestierte Vollversagen, weil die beiden Hauptgründe für die Bildungsmisere in der Bundespolitik liegen.
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Die erste Ursache sind die von Beginn an umstrittenen Schulschließungen während der Corona-Pandemie. In Deutschland gaben 71 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, dass in ihrem Schulgebäude wegen der Coronakrise mehr als drei Monate lang kein Unterricht stattfand, stellt die OECD fest.
Die zweite Ursache ist, dass auf den migrationsbedingten hohen Ausländeranteil in Schulklassen nicht hinreichend reagiert wurde. Im vergangenen Jahr betrug der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund 26 Prozent. Im Jahr 2012 waren es noch 13 Prozent.
Millionen Geflüchtete, keine Hilfe
Diese Migration – etwa aus der Ukraine – war im politischen Berlin gewollt. Fast eine Million Flüchtlinge aus Syrien sind nach Deutschland gekommen, dann kamen eine weitere Million Ukrainer. Hier steht die Bundesregierung in der Pflicht.
Denn ebenso wie bei dem Dauerstreit um Aufnahmeeinrichtungen hält sich der Bund auch vornehm zurück, wenn es um die Bewältigung der Zuwanderung im Bildungssystem geht. Dabei stellte selbst Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) fest: "Aktuell stehen die Schulen zudem vor der Aufgabe, ukrainische Flüchtlingskinder in den Unterricht zu integrieren." Das sagte sie aus Anlass eines "Bildungsgipfels" in Berlin im März dieses Jahres.
Die Veranstaltung war im Koalitionsvertrag angekündigt worden. Dort heißt es auch: "Gemeinsam mit den Ländern werden wir die öffentlichen Bildungsausgaben deutlich steigern und dafür sorgen, dass die Unterstützung dauerhaft dort ankommt, wo sie am dringendsten gebraucht wird."
Die "Bildungsgipfel" sollte im Zusammenspiel von Bund, Ländern, Kommunen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft "neue Formen der Zusammenarbeit und gemeinsame ambitionierte Bildungsziele" definieren.
"Unser Bildungssystem muss faire Chancen geben, damit jeder an seine Ziele kommen kann", so Stark-Watzinger damals. Mit eigener Anstrengung und Leistung die eigenen Ziele zu verwirklichen, das sei das Aufstiegs-Versprechen. Und "das ist der Kitt der Gesellschaft", so Stark-Watzinger. Viel zu oft entscheide noch die soziale Herkunft über den Bildungserfolg.
In den Schulen weiß man: Die Versprechen des Koalitionsvertrags und der Ministerin sind nichts wert. Die Lage wird trotz aller Beteuerungen immer schlechter.
Die Bildungskrise nimmt bedrohliche Formen an
Und das ist ein nationales Problem, ein Notstand geradezu. Junge Menschen, die keine grundlegenden Kenntnisse in den Kernfächern mehr vermittelt bekommen, werden dieses Defizit zeitlebens schultern. Schon jetzt gelingt vielen Schulabsolventen der Einstieg in die Berufsausbildung nicht.
Laut dem Berufsbildungsbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus dem vergangenen Jahr brachen im Jahr 2020 25,1 Prozent der Lehrlinge ihre Ausbildung ab. Selbst wenn einige von ihnen erfolgreich in einen anderen Beruf wechseln, bleiben nach Angaben des Arbeitsmarktexperten Stefan Sell etwa zehn Prozent der Jugendlichen, die ihre Ausbildung nicht abschließen und als Ungelernte auf dem Arbeitsmarkt enden.
Sell bezeichnet diese Gruppe als "Hochrisikogruppe", da es für sie schwierig ist, auf dem dynamischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er führt dies vor allem darauf zurück, dass diese Auszubildenden den Anforderungen der Berufsschule nicht gerecht werden können. Sell dazu:
Sie können heute einen Mechatroniker im Autobereich nicht mehr mit dem alten Kfz-Schrauber vergleichen. Das gilt aber für ganz viele, eigentlich alle Handwerksberufe, dass dort aufgrund der technologischen Entwicklung auch die Anforderungen, zum Beispiel an Mathematik und so weiter, deutlich gestiegen sind.
"Das Versagen der Auszubildenden in Mathematik muss uns nicht wundern, nahmen doch die Mathe-Leistungen der Schüler in den letzten Jahren ebenso deutlich ab wie die Leistungen in Deutsch", schreibt der ehemalige Gymnasiallehrer Rainer Werner in der Zeitschrift Cicero:
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) beklagt schon seit Jahren, dass die Zahl der Schüler, die nicht ausbildungsfähig sind, unvermindert hoch sei. Schwächen gebe es vor allem in den beiden Hauptfächern Deutsch und Mathematik, wo oft nicht einmal elementare Kenntnisse vorhanden seien. In Zeiten akuten Fachkräftemangels ist es offensichtlich, dass die zutage tretenden schulischen Defizite der Wirtschaft schaden.
Bundesregierung streicht Förderprogramme
Die Bundespolitik schadet dem Bildungssystem nicht nur, indem sie die Folgen ihrer Entscheidungen im Pandemie- und Migrationsgeschehen nicht zu bewältigen hilft. Sie streicht sogar Bundesprogramme.
So forderte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Stark-Watzinger im Oktober auf, unverzüglich ein Konzept für die Weiterentwicklung und Fortführung der "Qualitätsoffensive Lehrerbildung" vorzulegen, die Ende dieses Monats ausläuft. Die Bundesregierung sollte nun die Grundlagen für eine "Qualitätsoffensive 2.0" schaffen.
Andreas Keller, stellvertretender GEW-Vorsitzender und Hochschulexperte, betonte: "Die Qualitätsoffensive, die der Bund mit etwa 500 Millionen Euro unterstützt hat, hat bedeutende Impulse für Innovationen in der Lehrerausbildung gesetzt, insbesondere im Bereich der digitalen Bildung oder inklusiven Bildung. Die Bedeutung der Lehrkräftebildung war nie größer als heute."
Das pädagogische Personal solle die mittlerweile über 150.000 Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine an Schule und weitere Tausende an Kitas integrieren, in dem Wissen, dass nicht einmal eine von zehn Schulen über Übersetzungskräfte oder Lehrkräfte aus der Ukraine verfügt, heißt es vom Verband Bildung und Erziehung.
Wenn dann noch Programme, die sich als äußert erfolgreich und immens wichtig etabliert haben, wie das Förderprogramm zur alltagsintegrierten Sprachbildung und Partizipation an Kitas kurzerhand gestrichen werden, wie von der Bundesregierung kürzlich verkündet, bleibt nur noch Fassungslosigkeit."
Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung, Udo Beckmann
Sicher: Die Ampelregierung und ihre glück- oder erfolglose Bildungsministerin hätten die Pisa-Ergebnisse kaum beeinflussen können.
Aber sie hätte einen politischen Kurswechsel einleiten können, um die Belastungen zu verringern.
Sie hätte Länder und Kommunen unterstützen können, statt erfolgreiche Integrationsprogramme zu beenden.
Sie hätte Steuergelder dort investieren können, wo sie am dringendsten gebraucht werden: in die Bildung.
Stattdessen fließen 100 Milliarden Euro in die Aufrüstung und acht Milliarden Euro nach Kiew, um einen weitgehend verlorenen Krieg weiterzuführen.
Dafür seien "wir" bereit, "selber (…) einen hohen wirtschaftlichen Preis zu bezahlen, sagte Außenministerin Annalena Baerbock Anfang 2022 in Kiew.
Ihre Kabinettskollegin Stark-Watzinger fügte später mit Blick auf ihren Aufgabenbereich hinzu, das Schuljahr 2023 müsse "ein normales werden, zumindest so normal wie möglich".
In den Ohren der Leidtragenden des Ampel-Vollversagens muss das, freundlich formuliert, wie Hohn klingen.