Nachsitzen! Den Pisa-Test haben Mama und Papa vergeigt

Müssen sich Eltern schuldig fühlen, weil sie nicht als Hilfslehrer befähigt sind oder keine Zeit haben?

(Bild: 14995841, Pixabay)

Für schlechte Ergebnisse bei der Schulleistungsstudie sollen vor allem die Eltern verantwortlich sein – und Migranten. Lesen sie zu wenig vor? Ein Kommentar.

Wie erklärt sich das deutsche Pisa-Desaster? Für nicht wenige Politiker und Kommentatoren steht außer Frage: Die Erzieher oder vielmehr die Nichterzieher zu Hause tragen mindestens eine Mit-, wenn nicht die Hauptschuld.

Zum Beispiel schrieb dieser Tage Nikolas Blome in seiner Spiegel-Kolumne: "Wenn Schüler mit 15 (!) Jahren nicht richtig lesen oder rechnen können, liegt das auch in ihrer Verantwortung und der ihrer Eltern."

Immerhin weiß Blome auch, dass die Fähigkeit, sich um Kinder kümmern zu können, "eine Frage der ökonomischen Bedingungen" sei, wofür er ein "d’accord" nachschiebt – und ein Aber hinterher.

Tonlage gesetzt

Denn sich um Kinder "kümmern zu wollen, ist indes auch eine Frage der Haltung" und in Elternhäusern, die nach Flucht oder Zuwanderung ökonomisch nicht gut dastünden, "zählt diese Haltung besonders viel".

Damit ist die Tonlage gesetzt. Der Bildungsnotstand in Deutschland, erneut dokumentiert durch ein "Schlecht-wie-nie" bei der internationalen Pisa-Schulleistungsstudie, ist auch und irgendwie vor allem ein Migrationsproblem – und das einer falschen Haltung. Wobei die Wortwahl (gewollt oder nicht) das Bild von Nagetieren in Käfigen evoziert.

Man spricht (kein) Deutsch

Der "Befund" lautet im Groben so: Weil die vielen Nichtdeutschen in deutschen Klassenzimmern kein Deutsch sprechen, lernen sie auch nichts und erschweren noch dazu ihren deutschen Klassenkameraden das Lernen. Blome liefert die passende Formel: "Asylzahlen rauf, Bildungswerte runter – das wird nicht lange gut gehen."

Dass bei der Integration von Geflüchteten hierzulande einiges im Argen liegt und insbesondere die Schulen in ihrer aktuellen Verfassung vor offenkundig kaum oder nicht lösbare Aufgaben gestellt sind, ist unstrittig.

Und genau deshalb drängt sich nur eine Lösung auf, nämlich die, die Schulen in eine Verfassung zu bringen, in der sie ihren Aufgaben gerecht werden können.

Sprachförderung aufwerten!

Das erschöpft sich nicht in einer personell und konzeptionell aufgewerteten Sprachförderung. Die erforderlichen Anstrengungen müssen allen Kindern zugutekommen, also Achmed ebenso wie Felix, Elizaveta genauso wie Emma. Letztendlich geht das nur mit sehr viel Geld.

Das Bündnis "Bildungswende Jetzt!", das im September bundesweit zu Protesten mobilisierte, hat eine schöne Hausnummer ins Spiel gebracht: ein "Sondervermögen Bildung" von 100 Milliarden Euro im Verbund mit einer Steigerung der jährlichen Bildungs- und Forschungsausgaben auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Herumdoktern an Symptomen

Die Regierenden in Bund und Ländern denken nicht daran, in die Vollen zu gehen. Für sie verdient das deutsche Militär auf einen Schlag 100 Milliarden Euro, verankert im Grundgesetz. Für Bildung bleibt da freilich noch weniger hängen, zumal "knapp bei Kasse" immer nur für Bereiche der Daseinsvorsorge gilt.

Und so geht bei allem Gerede von "Bildungsgerechtigkeit" und "Deutschlands wichtigster Ressource" der Einsatz für Kitas, Schulen und Hochschulen nicht über ein klägliches Herumdoktern an den Symptomen der Misere hinaus.

Was wird aus dem Startchancen-Programm?

Zum Beispiel will die Ampel ein "Startchancen-Programm" auflegen, um damit gezielt 4.000 sogenannte Brennpunktschulen zu fördern, wofür Bund und Länder jährlich zwei Milliarden Euro bereitstellen sollen.

Dumm nur: Das fraglos gut gemeinte Vorhaben droht gerade im durch das Karlsruher Etaturteil aufgerissenen Haushaltsloch zu versumpfen.

Das wäre bitter, aber noch bitterer ist die Erkenntnis: Brennpunkt ist in allen Schulen, nicht nur in denen mit hohem Anteil an Kindern sogenannter bildungsferner Herkunft. Was die politisch Verantwortlichen gar nicht auf dem Schirm haben, sind etwa die kognitiven, psychischen und physischen Verheerungen durch die exzessive Nutzung digitaler Medien.

Verlernen mit Google

Die Wissenschaft schlägt ob der vielfältigen Gefahren Alarm und in immer mehr Ländern sucht die Politik ihr Heil darin, Tablets und Smartphones wieder aus dem Unterricht zu verbannen.

Gerade schickt sich Neuseeland an, ein Handyverbot an Schulen durchzusetzen. Premierminister Christopher Luxon im O-Ton: "Wir wollen, dass unsere Kinder lernen, und wir wollen, dass unsere Lehrer unterrichten." Aber hierzulande ist man wild entschlossen, die Schulen per Digitalpakt mit IT und KI zu fluten.

Vielsagend ist das, was Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zur neuesten Pisa-Pleite einfällt. "Das hat wahrscheinlich Ursachen in der Tiefengrammatik einer Bevölkerung, es hat was mit Migration zu tun und vielem mehr." Nichts zu tun habe es dagegen mit der Regierungsperformance: "Ich bin der Meinung, dass unsere Programme und Schwerpunktsetzungen in die richtige Richtung zeigen".

Jagd auf Sündenböcke

Als Sündenbock müssen für Kretschmann andere herhalten, vorneweg einmal mehr die Eltern. Ob die ihren Kindern "vorlesen oder nicht, steht nicht in unserer Macht (...), das muss man einfach sehen, das kann man nicht alles auf die Politik abladen". Wovon redet dieser Mann? Natürlich können Pädagogen nicht am Bettchen ihrer Schüler aus Grimms Märchen vortragen.

Aber aus welchem Schmöker hat Kretschmann die Mär, dass Familien den Schulen die Beschulung ihre Kinder abzunehmen haben? Ist es nicht eine zentrale Mission des öffentlichen Bildungswesens, für gleiche Bildungschancen für alle zu sorgen, und zu gewährleisten, dass sozial Benachteiligte und Kinder aus schwierigen Verhältnissen herkunftsbegründete Bildungszugangshürden überwinden können?

Davon ist man heute, erst recht angesichts des gewaltigen, maßgeblich durch politische Spardiktate und Fehlsteuerung herbeigeführten Lehrermangels so weit weg wie nie. Und ohne die vielen Eltern, die ihren Sprösslingen dabei helfen, die Hausaufgaben zu machen, für Prüfungen zu lernen und Versäumnisse des Regelunterrichts irgendwie zu kompensieren, wäre das Pisa-Fiasko noch krasser.

Ideal: Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Und predigt die Politik nicht ständig etwas von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und davon, dass ein gut ausgebautes Netz an Kitas und Ganztagsschulen erst die Möglichkeit – insbesondere für Mütter – schafft, Karriere zu machen?

Nun ist dieses Netz allen Versprechungen zum Trotz aber noch lange nicht dicht, sondern extrem löchrig. Aber wenn es dann mal irgendwann so weit ist: Soll Mutti dann dem Sohnemann aus dem Büro per Videoschalte Physik beibiegen?

Boombranche Nachhilfe

Die Debatte trieft nur so vor Widersprüchen, Verlogenheiten und falschen Schulzuweisungen. Faktisch sind die Eltern (und mit ihnen die Lehrkräfte) Ausputzer eines in Jahrzehnten durch forcierte Entstaatlichung und Privatisierungen heruntergewirtschafteten Bildungssystems. Mama und Papa machen längst durch Eigenleistung das wett, was der Rumpfbetrieb Schule nicht mehr leistet.

Es sei denn die Schülerhilfe oder der Studienkreis springen in die Bresche. Die Nachhilfebranche – längst dominiert von Private-Equity-Fonds – rechnet für 2023 mit einem Jahresumsatz von einer Milliarde Euro. Kommerziell ist der allgemeine Niveauverfall ein echter Glücksfall. Und der verkorkste gesellschaftliche Diskurs dreht das alles so hin, dass es wie die reinste Vernunft erscheint.

Ein Viertel aller Kinder ist armutsgefährdet

Aber es gibt eben immer mehr Haushalte, die bei all dem nicht mitgehen können und auf der Strecke bleiben, sei es wegen materieller Not, Verwahrlosung, Sprachbarrieren oder fehlender "Haltung", wie Spiegel-Schreiber Blome es nennt und weshalb er poltert, "es wird Zeit, die Eltern in Haftung zu nehmen".

Nicht in Haftung nimmt er die Sozialpolitik, die die beste Bildungspolitik ist. Die gerät durch reichlich Umverteilung von unten nach oben heute reichlich zu kurz. Deutschland bringt es mittlerweile auf eine sogenannte Armutsgefährdungsquote von 24 Prozent bei Kindern und Jugendlichen, was übersetzt heißt, ein Viertel der unter 18-Jährigen lebt in Armut. Ihr größtes Pech ist allerdings: Keiner liest ihnen was vor.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.