Verschwommene Fernsehbilder und politische Paranoia
"23" - Ein deutscher Thriller über den Computerhacker Karl Koch
Zeitungsausschnitte, Fotos, bekritzelte Zettel hängen von Wäscheleinen, sind an die Wand gepinnt, bedecken den Boden. Manchmal ist ein Foto angekreuzt, Zeitungszeilen unterstrichen, Pfeile weisen auf geheime Zusammenhänge hin. Schon der Vorspann von "23", dem neuen Film des Müncher Regisseurs Hans-Christian Schmidt ("Nach fünf im Urwald"), signalisiert, daß wir uns ein sehr eigenes Gedankenuniversum begeben: in die Welt des Computerhackers Karl Koch, der in den 80er Jahren Schlagzeilen machte, weil er Paßwörter und geheime Dateien, die er aus Rechenanlagen in der ganzen Welt zusammengeklaut hatte, an den KGB verkauft hatte. Der Computerthriller hatte vergangene Woche in Berlin Vorpremiere und soll im Januar 1999 in die deutschen Kinos kommen.
In dem bekannten Netzbuch "The Cuckoos's egg" hat Clifford Stoll seine Version dieser Geschichte erzählt. Koch war kein Spion, er handelte aus Überzeugung. Anfang der 80er Jahre engagierte er sich politisch, demonstrierte er gegen das Kernkraftwerk in Brokdorf, und überwarf sich schließlich mit seiner konservativen Familie. Er zog zuhause aus, entdeckte kurz danach die Illuminatus!-Triologie, und begann, an die Verschwörungstheorien zu glauben, die ihr Autor Robert Anton Wilson - der in dem Film auch einen kurzen Gastauftritt hat - in seinen Büchern ausbreitet: seit 200 Jahre zieht ein unbekannter Geheimbund hinter den Kulissen die weltpolitischen Fäden. Beweis dafür war ihm unter anderem das häufige Auftauchen der Zahl "23" im Zusammenhang mit historischen Katastrophe - daher auch der Titel des Films.
Zur selben Zeit bekam er Kontakt mit dem Hamburger ChaosComputerClub (CCC), und begann, sich in der gerade entstehenden deutschen Mailboxen-Szene zu bewegen. Sein Online-Name: Hagbard Celine, wie der Held der Illuminatus-Triologie. Als er bei der CeBit in Hannover einem Fernsehreporter als frischgebackener Hacker ein Interview gab, wurde er von einem Kleinkriminellen entdeckt, der ihn auf die Idee brachte, in amerikanische Rechner einzubrechen, und Daten und Paßwörter an dem KGB weiterzugeben. Durch die Daten, die er an die Russen weitergab, wollte Koch eigentlich den Weltfrieden sichern. Doch anstatt sich seinen politischen Zielen auch nur zu nähern, wurde er von skrupellosen Mittelsmännern ausgenutzt, die ihn mit Kokain und Speed vollpumpten, um ihn zu nächtelangen Hacksessions vor dem Computer zu motivieren.
Drogensüchtig und überreizt glaubte Koch schließlich, durch seine Hacks für die amerikanischen Angriffen auf Libyen und die Atomkatastrophe in Tschernobyl verantwortlich zu sein. Schuldgefühle und Paranoia trieben ihn immer tiefer in die Drogenabhängigkeit, seine Wahnvorstellungen brachten ihn unter anderem dazu, aus einem fahrenden Auto auf der Interzonen-Strecke zu springen. 1988 stieg er aus und sagte als Kronzeuge gegen seine Komplizen aus. Im Mai 1989 wurde seine Leiche in einem Wald in der Nähe von Hannover gefunden. Ob er sich selbst umgebracht hat, oder ob er ermordet wurde, ist bis heute ungeklärt.
Auch wenn "23" nicht das deutsche "Train Spotting" ist - einige seiner Szenen sind von einer Intensität, die an den britischen Kultfilm des vergangenen Jahres erinnert. Mit August Diehl und Fabian Busch hat der Regisseur zwei hervorragende Jungschauspieler entdeckt, die Koch und seinen besten Freund darstellen. Ihr Spiel gibt dem ganzen Film eine hohe emotionale Dichte.
Doch "23" ist nicht nur ein spannender Film, sondern auch eine sehr gelungenen Rekonstruktion vom Leben in West- Deutschland in den 80er Jahren. In oft leicht überbelichtet wirkenden Bildern (Kamera: Klaus Eichhammer) ruft der Film die unterschwellig paranoide Stimmung der letzten Jahre des Kalten Krieges auf. Da hängen Palästinensertücher vor den Fenstern, auf verschwommenen Fernsehbildern sieht man Ronald Reagan und Muhammad Ghaddafi, und für die Hacks wurde ein kleiner Maschinenpark aus antiquierten Computern zusammengetragen, bei denen sogar die Terminalemulationen orginalgetreu simuliert wurden.
"23" holt eine politische Realität auf die Leinwand zurück, die man schon fast vergessen hat, obwohl sie gerade mal zehn Jahre vergangen ist: die Zeit, als die UdSSR noch eine Supermacht war, die Mauer noch stand - selbst den Ton der Zöllner an der deutsch-deutschen Grenze gibt der Film orginalgetreu wieder. Die Computervernetzung, so könnte man den Film heute interpretieren, hat den Eisernen Vorhang obsolet gemacht, war eine Art technologische Vorwegnahme von Glasnost und Öffnung der Grenzen. Karl Koch hat den Fall der Mauer nicht mehr erlebt. Er starb sechs Monate vorher - am 23. Tag des Monats Mai...
23, Deutschland 1997, Regie: Hans-Christian Schmidt, Buch: Hans-Christian Schmit und Michael Gutmann, Kamera: Klaus Eichmann, mit August Diehl (Karl Koch), Fabian Busch (David), Dieter Landuris (Pepe), Jan-Gregor Kremp (Lupo), Peter Fitz (Brückner), Hanns Zischler (Werner Koch) und als Gast Robert Anton Wilson
"23" soll im Januar 1999 in Deutschlands Kinos starten.